Weinland

Das Neue ins Bestehende flechten

Gut 100 Tage sind seit dem Start der fusionierten Reformierten Kirchgemeinde Weinland Mitte vergangen. Präsident Rolf Hans Elsener (55) erzählt von ersten Erkenntnissen und den Herausforderungen.

von Evelyne Haymoz
20. April 2022

Herr Elsener, haben Sie die «Kirchgemeinde Weinland Mitte» schon erlebt?
Rolf Hans Elsener: Zwei Erlebnisse kommen mir da sofort in den Sinn. Zum einen, als ein Mitglied fragte, ob wir ein Friedensgebet für die Ukraine durchführen könnten. Innert zwei Tagen nahm es Form an, und wir setzten es am 2. März in allen sechs Kirchen um. Zum anderen war es die Aufnahme von Flüchtlingen. Wir stellten das leer stehende Pfarrhaus in Benken zur Verfügung. Innert kürzester Zeit wurde es mit Möbeln und Alltagsgegenständen gefüllt. Inzwischen wohnen dort zehn Flüchtlinge. Betreut werden sie in Koordination mit der Behörde Benken und der Primarschule durch die Kirche.

Seit Neujahr präsidieren Sie die neue, neunköpfige Behörde Weinland Mitte, von 2009 bis 2014 standen Sie der damaligen Kirchenpflege Ossingen vor. Was ist anders?
So ziemlich alles (lacht): zahlenmässig und strukturell.

Wie meinen Sie das?
Neu gibt es vier Pfarrpersonen und 3500 Mitglieder in verschiedenen Dörfern. In Ossingen waren es damals 800 Mitglieder. Je mehr, desto schwieriger ist es, den Puls zu spüren. Und je grös­ser die Gemeinde ist, desto mehr Strukturen braucht es. Ich beobachte aber auch, dass Mitglieder sich inzwischen häufiger auf den Weg machen, um die Feier in einem anderen Dorf zu besuchen.

Strukturell neu sind die Ortskirchenkommissionen (OKK). Wodurch unterscheidet sich deren Arbeit von derjenigen der Kirchenpflege?
Entscheidend dafür ist, dass wir noch stärker eine Beteiligungs- und Ermöglichungskirche leben möchten, in der sich die Mitglieder einbringen können und sollen. Die Aufgabe der OKK ist, die Bedürfnisse in den einzelnen Gemeinden zu erfahren. Daraus entwickeln sie Ideen oder greifen vorhandene auf und setzen diese um. Die OKK-Mitglieder sind gewissermassen die Hände, Füsse und Fühler der Kirchenpflege. Die Kirchenpflege hingegen ist eher strategisch tätig.

Ketzerisch gefragt: Leisten die Mitglieder und die OKK die eigentliche Arbeit?
Diese Ansicht ist mir fremd. Ausser in Rhein­au haben sich bislang an allen Orten Personen für die OKK zur Verfügung gestellt. Diese möchten sich einbringen und haben Spass daran. Dass sie eine Entschädigung erhalten, ist dabei sekundär.

Sie erwähnten die Beteiligungskirche. Wie ist sie gestartet?
Fulminant! Die Ideen der OKK kommen, aber ich möchte nicht aus dem Nähkästchen plaudern, sondern verweise auf das «Chileblatt». Gemerkt haben wir aber, dass es einen regionalen Austausch und eine Vernetzung der verschiedenen OKK braucht.

Es wird Neues lanciert und gleichzeitig Altes durchgeführt. Gibt es Spannungen?
Das Wichtigste für mich ist momentan, dass man die lokalen Aktivitäten weiterführt, solange sie gelebt werden. Ermöglichungskirche bedeutet aber auch, loszulassen, was nicht mehr gefragt ist. Das entspricht auch unserem Leitbild, in dem es unter anderem heisst: «Wir achten Traditionen, lernen durch Erfahrung und haben Mut, neue Wege zu gehen». Wir wollen das Neue, das die OKK formulieren, ernst nehmen und versuchen, es in das Bestehende einzuflechten. Aktuell ist die Kirchgemeinde eine Baustelle – und das ist das Spannende.

Ist geplant, den verschiedenen Ortskirchen Schwerpunkte zu verpassen?
Nein, eine Profilierung ist nicht geplant. An jedem Ort gibt es mindestens einmal pro Monat einen Gottesdienst – klassische, aber auch spezielle –, aber nicht mehr an jedem Sonntag. In der Stadt Zürich ist es eher möglich, etwa eine Jazzkirche aufzubauen, weil es dort mehr Leute hat. Unsere fünf früheren Gemeinden sind unterschiedlich geprägt, und diese Vielfalt wollen wir beibehalten. Wir wollen charismatisch und liberal denkende Menschen – ich sehe das wertneutral – abholen. Jede unserer Kirchen soll Heimat für alle sein. Bei den Pfarrpersonen erachte ich es als möglich, dass mittelfristig Schwerpunkte gesetzt werden. Aktuell sind sie aber noch zu stark in den Aufbau eingebunden.

Welche Herausforderungen stellen sich der neuen Kirchgemeinde?
Der Mitgliederschwund macht auch uns Sorgen. Wir hoffen, ihn durch die Beteiligung zu vermindern oder gar aufzuheben. Zustüpfe erhalten wir vom Zürcher Finanzausgleich. Da jedoch die Austritte im urbanen Gebiet zahlreicher sind als auf dem Land, müssen wir uns mittel- bis langfristig dar­auf einstellen, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen.

Auch der Unterhalt der kirchlichen Gebäude kostet. Gibt es bereits eine Strategie, wie es mit den Kirchen weitergeht?
Dies ist in der Tat eine Frage, die sich die Kirchenpflege in Zukunft stellen muss – es ist aber aktuell noch zu früh.

Wie geht es weiter?
Mitte Juni steht die Kirchgemeindeversammlung an. Dann werden auch die Mitglieder der Pfarrwahlkommission gewählt, die einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für Pfarrer Hannes Brüggemann sucht. Bis Ende Juni sollen auch die wichtigsten Reglemente zur Erwachsenenbildung, zum Personal und zur Kommunikation erarbeitet sein. Und am Wochenende vom 10. Juli laden wir zum Fusionsfest in Marthalen mit einem Gottesdienst, mit Unterhaltung und Verpflegung.

Woran messen Sie den Erfolg der neuen Kirchgemeinde?
Eine Veränderung, gerade wenn sie von unten her passieren soll, braucht Zeit, Zeit und nochmals Zeit. Man wird es sehen, wenn mehr Leben oder noch mehr Leben in den einzelnen Dörfern einzieht, und es farbiger wird.

Weg zur Kirche «Weinland Mitte»

Die jüngste reformierte Kirchgemeinde im Bezirk, «Weinland Mitte», ging aus der Fusion der früheren Kirchgemeinden Benken, Marthalen, Ossingen, Rheinau-Ellikon und Trüllikon-Truttikon per Neujahr 2022 hervor (AZ vom 4.1.2022). Für eine verbindliche Zusammenarbeit sprachen sich die Mitte-Gemeinden 2016 aus. Ausser Marthalen stimmten damals auch alle der Vorbereitung eines möglichen Zusammenschlusses zu. (hay)

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