Weinland

Der Gegenpol von Angst ist Vertrauen

Täglich berichten die Medien über die Corona-Pandemie. Andreas Hablützel, Hausarzt in Marthalen, nimmt eine angstmachende Kommunikation durch Behörden, Politik und Medien wahr. Seines Erachtens wäre Vertrauen angesagt.

von Evelyne Haymoz
23. Oktober 2020

Herr Hablützel, noch vor zwei Wochen sagten Sie gegenüber der «Andelfinger Zeitung»: «Ich beobachte die Situation aufmerksam, bin aber nicht alarmiert.» Wie schätzen Sie die Lage in der Region heute ein?
Andreas Hablützel: Diese Worte habe ich mit Bedacht gewählt. Auch das Weinland spürt, dass die Fallzahlen steigen und sich nach heutiger Einschätzung weiter erhöhen werden. Am Mittwoch wurden gesamtschweizerisch 5600 neue Fälle gemeldet, bei gleichmässiger Verteilung auf das Weinland wären hier 20 zu erwarten gewesen. In meiner Praxis wurden sechs Patienten positiv getestet. Aber das ist nicht das Problem.

Sondern?
Es ist die Art und Weise, wie die Behörden kommunizieren, nämlich drohend und angstmachend. Daran stosse ich mich und daran, wie die Medien das weitertragen. Es wird geschrieben, dass der Bundesrat vor einem Lockdown «warnt» oder mit einem solchen «droht». Es wird von einem «Kampf gegen die Pandemie» berichtet und von «schärferen Massnahmen». Ich denke, das Grundthema ist angekommen: Hygiene und Abstand halten. Doch diese Kriegsrhetorik löst Angst aus, und eben auch Widerstand.

Was ist daran verkehrt?
Angst, das wissen wir alle, lähmt. Sie führt aber auch zu irrationalem Verhalten, etwa dass vermehrt Toilettenpapier gekauft wird. Kennen Sie den Spruch «Angst verhindert nicht den Tod, Angst verhindert das Leben»? Das Leben findet heute und in der Gegenwart statt – mit Corona.

Was schlagen Sie stattdessen vor?
Behörden, Politik und Medien sollten nicht angstmachend, sondern differenziert informieren. Indem sie mitteilen, dass zwar 1860 Personen an Sars-CoV-2 verstorben sind, über 80 Prozent davon aber 80-jährig und älter waren. Darunter befanden sich auch Menschen, die hochbetagt, polymorbid (an mehreren Krankheiten leidend) oder dement waren.

Was liesse sich damit gewinnen?
Lebensqualität! Wo ermutigend kommuniziert wird, bleiben auch die Menschen bei der Stange. Sie machen mit, wenn sie hören, dass wir alle zusammenstehen und in dieser komplexen Situation mit Vertrauen und Zuversicht unser Bestes geben.

Reicht das aus?
Die letzten Monate haben gezeigt, dass das Virus nicht kontrolliert werden kann. Es gehört zur Welt und lässt sich nicht einfach ausmerzen. Mit einem Lockdown drängen wir es zurück, aber es kommt wieder, wie ein Pendel. Ich bin sicher, auch wenn das Coronavirus uns noch lange beschäftigen wird, wird die Menschheit es überleben. Im Gesundheitswesen gibt es auch einen Mechanismus: Wir geben immer mehr Geld dafür aus, dass Krebstherapien entwickelt werden, damit weniger Menschen an Krebs sterben. Als Folge davon werden wir immer älter, aber nicht unbedingt mit mehr Lebensqualität. Wurden wir je gefragt, in welchem Mass wir das wollen?

Dabei gehört das Sterben zum Menschsein ...
Ja. Kennen Sie den Ausdruck «Helikop­ter-Eltern»? So werden Eltern bezeichnet, die ihren Kindern alle Gefahren aus dem Weg räumen. Wir haben momentan einen Helikopter-Staat, der uns ständig ermahnt: «Pass auf, sonst schlägst du dein Knie auf.» Damit möchte er verhindern, dass das Gesundheitswesen zusammenbricht. Aber alle drei Monate einen Lockdown über 8,5 Millionen Menschen in der Schweiz zu verhängen, kann auch nicht die Lösung sein. Wir müssen damit leben, dass auf Intensivstationen nur eine begrenzte Zahl von Betten vorhanden ist.

Und was bedeutet das zu Ende gedacht?
Wenn das Gesundheitssystem tatsächlich an seine Grenzen kommt, dann müssten unbequeme und schwierige Entscheidungen getroffen werden. Wer erhält das letzte Bett: die Schwangere oder der Greis? Die Ressourcen müssten dann nach medizinischen und ethischen Kriterien verteilt werden: Wer hat die besseren Chancen zu überleben, und bei wem lassen sich mehr zusätzliche Lebensjahre herausholen? Als ich in Südafrika gearbeitet habe, mussten wir immer wieder solche Entscheide treffen.

Sprechen Sie jetzt als Arzt?
Momentan scheint es nur eine Betrachtungsweise zu geben, nämlich die epidemiologische.  Epidemiologen, Virologen, Immunologen erleben jetzt ihre Sternstunde. Das ist meines Erachtens falsch. Wir müssen uns als Gesellschaft damit auseinandersetzen, denn es ist auch ein philosophisches, soziales, kulturelles und religiöses Problem: Wollen wir im Schnitt als 90-oder 100-Jährige sterben? Und macht uns das glücklicher, auch als Gesellschaft?

Was beschäftigt die Menschen, die zu Ihnen in die Praxis kommen?
In Einzelgesprächen erlebe ich täglich, was diese restriktiven Massnahmen bedeuten. Selbständige oder Angestellte in den gebeutelten Branchen teilen mir ihre Existenzängste mit. Andere Menschen – gerade solche mit psychischen Erkrankungen – entwickeln Angststörungen. Grosseltern erzählen mir, dass sie ihre Enkelkinder sehr vermissen.

Wie geht es Ihnen damit?
Als Hausarzt ist man auch Seelsorger. Als solcher macht man sich grundsätzlich Gedanken über das Leben und das Sterben. Was mir hilft, ist mein Urvertrauen.


Dr. med. Andreas HablĂĽtzel ist seit 2008 Hausarzt in Marthalen. Zudem initiierte er die Land-Permanence in Henggart und ist stellvertretender Bezirksarzt.

War dieser Artikel lesenswert?

Zur Startseite