Weinland

Ein Blick in die ehemalige «Bindi»

An einer Führung gibt Werkstattmeister Walter Weder einen Einblick in die 150-jährige Geschichte der ehemaligen Bindfadenfabrik. Auf dem Areal soll Neues entstehen.

von Jasmine Beetschen
15. Februar 2022

Wenn man über das Arova-Areal oberhalb von Flurlingen spaziert, spürt man noch die Seele von damals, als dort in der Fabrik gearbeitet und gelebt wurde. «Es war nicht nur ein Arbeitsort, sondern eine Gemeinschaft», erklärt Walter Weder. Seit 35 Jahren amtet er als letzter Werkstattmeister der Arova und weiss so einiges aus der 150-jährigen Industriegeschichte zu berichten. Sein Wissen teilte er am Samstag mit rund 70 Personen, die er auf eine Führung über das Gelände der ehemaligen Schweizerischen Bindfadenfabrik, auch «Bindi» genannt, mitnahm und mit ihnen einen Blick in die Vergangenheit warf.

Nachdem der damalige Regierungsrat Heinrich Moser den Moserdamm in Schaffhausen gebaut hatte, plante er 1872 ein waghalsiges Unterfangen: Mittels einer etwa 150 Meter langen Holzwelle sollten rund 200 PS von der Turbine am Rhein zum 55 Meter höher gelegenen Hauptgebäude der neu eröffneten Fabrik übertragen werden. In einer Transformatorenstation wurde die Energie in Strom umgewandelt. Damit sicherte er die Energie, welche benötigt wurde, um die Maschinen in den verschiedenen Hallen zu betreiben. Die Treppe, auf der jeweils jährlich die «Treppen-Challenge Flurlingen» durchgeführt wird, ist ein Überbleibsel der damaligen Wartungstreppe. Das Projekt war erfolgreich. So nahm die Fabrik ihren Betrieb 1874 auf, und bald schon arbeiteten 500 bis 600 Personen auf dem Areal.

In der «Bindi» wurden Hanfknäuel verarbeitet, welche im Tessin und in Graubünden gewonnen wurden. Sie wurden zu Bindfäden aller Art gedreht, zu Seilen und Kordeln geflochten sowie zu Gürteln für Industrie, Gewerbe, Landwirtschaft, Haushalt und Freizeit verarbeitet. Jede Halle auf dem Areal trägt noch heute den Namen des Handwerks, welches in ihr betrieben wurde: So gibt es die Zwirnerei, Seilerei und Knäuelei sowie die Garn- und Bindi- Halle. In den 1960er-Jahren wurde die Fabrik in Arova umbenannt, im Jahr 2000 stellte sie ihren Betrieb ein.

Kontrolle war essenziell
«Die Arova war im Grunde der Zünder für die Entwicklung von Flurlingen», erzählt Walter Weder. Für die Arbeiter mussten Häuser gebaut werden, was das Wachstum des kleinen Dörfchens am Hang, das damals mit rund 48 Hektaren die grösste Rebfläche aller Gemeinden im Weinland besass, enorm beschleunigte. Da nicht alle Arbeiterhäuser eigene Baderäume enthielten, duschten manche auf dem Areal. Auch gegessen wurde gemeinsam in der fabrik­eigenen Kaserne. «In der ‹Bindi› herrschte stets reger Betrieb, so brauchte es auch strenge Vorschriften», führte der Werkstattmeister aus.

Die Telefonkabine war zum Beispiel direkt gegenüber des Büros positioniert, so hatte man die Arbeitenden im Blick. Auch wurden am Eingang vom Portier schon mal Taschen kontrolliert. Zudem gab es eine Nullabsenzliste: Wer keinen Tag im Monat fehlte, erhielt einen Bonus.

Anekdoten aus früheren Zeiten
Während der Führung zeigte Walter Weder den Anwesenden unter anderem die Shedhalle, die mit ihrer damals neuartigen Dachkonstruktion das Erkennungsmerkmal des Areals wurde und in der nun zahlreiche Wohnmobile eingestellt sind. Neben dem Werkstattgebäude steht das ehemalige Kesselhaus. «Darin standen zwei Dampfkessel, und wenn diese in Betrieb waren, hängte man besser keine Wäsche draussen auf – es sei denn, man wollte diese tiefschwarz färben», erzählte er vor dem imposanten Gebäude. Gleich dahinter blickt man auf den nahe gelegenen Hügel, wo sich drei Wasserreservoire befinden, die ein Volumen von einer Million Litern zur Verfügung stellten. Dort hinauf führte auch der Gang des Nachtwächters, welcher dazumal zweimal pro Nacht seine Runde über das gesamte Areal machte. Er prüfte, ob alle Maschinen korrekt liefen und sich keine Unbefugten auf dem Areal herumtrieben. Diese Kontrollgänge erledigt heute Walter Weder.

In den 80er-Jahren wurde der Betrieb massiv reduziert, danach zog ein bunter Mix an verschiedenen Mietern auf dem Areal ein, von der Tierklinik über ein medizinisches Labor bis zu Künstlern wie Musiker und Fotografen, von der Auto­garage bis hin zum Fitnesszentrum.

Zukunft der Arova-Hallen
Das Areal soll nun weiterentwickelt und zu einem Treffpunkt für die Bevölkerung werden. Die Gemeinde Flurlingen und die Eigentümerin des Areals, die SGI Schweizerische Gesellschaft für Immobilien AG, organisierten daher die Führung, um bei der Bevölkerung Ideen und Anregungen einzuholen.

Weiterführender Workshop dazu: Donnerstag, 17. Februar, von 19 bis 22 Uhr, Anmeldung

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