Familienrat

Im Glauben gefangen

von Kurt Ramel, Henggart, Praxis für Kinesiologie, Winterthur
17. Juli 2018

Kürzlich habe ich einen Artikel über die Autorin Rana Ahmad gelesen. Diese Frau floh vor drei Jahren aus Saudi-Arabien. Sie sei vom Glauben abgefallen und im Paradies gelandet! Sie möchte Physik studieren, um die Welt und das Universum zu begreifen, und absolvierte dazu im Frühjar 2018 ein Praktikum am Cern in Genf. All dies wäre in ihrer Heimat nicht möglich gewesen. Dort steht das Wort Gottes, welches ihr sagt, wie sie zu funktionieren und zu sein hat, über allem. Dazu musste sie sich in einen Raster zwängen und sich verhüllen, was ihr alles nicht entsprach. Geschweige denn, dass sie hätte studieren können! Ihre Zweifel an Gott durfte sie sich nicht anmerken lassen, denn wer sich in Saudi-Arabien von ihm abwendet, wird mit dem Tod bestraft!

In allen Glaubensgemeinschaften wird aber alles über den «Raster» Gottes, Jesus oder Mohammed betrachtet. Glücklicherweise darf man in unserem Land «Religiöses» hinterfragen. Man darf selber herausfinden, was einem entspricht und was nicht. Denn, wenn einem gesagt wird, wie die Welt funktioniert oder zu funktionieren hat, welcher Glaube, welche Überzeugungen richtig oder falsch sind, ist man nicht mehr frei! Weder in Gedanken noch im Handeln. Der Glaube oder dessen Interpretation wird über alles gestellt und mit ihm auch alles erklärt. Das Wort Gottes auf die entsprechende Si­tua­tion geformt. Es ist aber auch das Wort Gottes und die damit verbundenen Moralvorstellungen, die letztlich einengen und gefangen machen. Darf ich das, darf ich das nicht etc. Auch die Rollen von Mann und Frau sind zum Teil sehr klar definiert und entsprechen nicht meiner Lebenshaltung und unserer Familienorganisation.

Für das Gemeinschaftsgefühl ist eine Glaubensgemeinschaft bestimmt ein Segen. Auch für Menschen, die Halt und einen Sinn im Leben suchen, kann diese eine seelische Oase sein. Man sollte sich aber bewusst sein, dass die Moral, welche dabei mitschwingt, die Lebenshaltung und -gestaltung dadurch unter Umständen stark mitdefiniert. Es kann eng werden für Kreative und Freigeister.

Als Konfessionsloser respektiere ich alle Religionen dieser Welt, die die Kulturen und Völker geprägt haben und es weiterhin tun. Auch als Reisender in fremden Ländern halte ich mich an die kulturellen Regeln, ich respektiere sie.Jedoch erwarte ich von eben diesen Glaubensgemeinschaften und Religionen, ebenso respektiert zu werden.Denn die Haltung der Toleranz ist sehr überheblich. Es wird zwar toleriert, aber als nicht «richtig» angesehen. Womit bereits wieder die «urteilende, religiöse Brille» wirkt. Obwohl gemäss Bibel nicht geurteilt werden soll! Nein, oft wird sogar noch missioniert!

Daher appelliere ich an alle Glaubensgemeinschaften für den Respekt aller Lebens- und Glaubensformen dieser Welt. Alle sind aus der entsprechenden Perspektive richtig. Es ist nicht an uns, dar­über zu urteilen. Wir können lediglich schauen, ob es uns persönlich entspricht oder nicht. Wir sollten voneinander lernen, um unseren Horizont zu erweitern. Für ein gemeinsames, friedliches, respektvolles Leben nebeneinander auf diesem einen Planeten, den es zu schützen gilt.

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