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Vom Untergang der Wikinger, oder war­um wir lernen sollten, Robben zu jagen

von Joelle Gautier, GLP Weinland
24. Juni 2022

Die Wikinger stehen in der Geschichtsschreibung für Mut und Abenteuerlust. Ihr Untergang ist indes wenig heroisch. Es war eine Kombination aus Globalisierung, klimatischer Veränderung und nicht nachhaltigem Umgang mit natürlichen Ressourcen, die den Nordmännern den Garaus machte – manch einem Leser mögen diese Schlagwörter angesichts der heutigen Ausgangslage bekannt vorkommen –, aber zurück zu den Nordmännern und -frauen: Der Wohlstand der Wikinger beruhte auf dem Handel mit Walrosselfenbein. Im Europa der damaligen Zeit ein Symbol für Luxus und entsprechend ein begehrtes Handelsgut.

Mit dem Aufkommen von indischem und afrikanischem Elfenbein veränderten sich die Vorlieben der verwöhnten Europäer, und das grönländische Walross war plötzlich nicht mehr gefragt. Um die sinkenden Preise auszugleichen, wurde die Jagd intensiviert und auf kleinere Weibchen mit kleineren Walrosszähnen ausgeweitet, so wurde aus dem einstigen Luxusgut ein billiger Ladenhüter.

Gleichsam setzte um das 14./15. Jahrhundert in Europa eine kleine Eiszeit ein. Die Viehzucht im eisigen Grönland wurde beschwerlicher, und aus den einstigen Walrossjägern und Rinderzüchtern wurden erzwungenermassen Robbenjäger. Aber auch der Anpassungswille der Wikinger konnte ihren Untergang nicht verhindern – um das 15. Jahrhundert verliert sich jede Spur der einstigen Siedler Grönlands.

Die Geschichte der Nordmänner ist kein Einzelfall. Und auch wenn wir heute nicht von Walrosszähnen oder der Robbenjagd abhängig sind, so müssen auch wir uns ebenfalls auf veränderte Umweltbedingungen einstellen – seien es klimatische, geopolitische oder gesellschaftliche. Unsere Anpassungsfähigkeit indes wird erschwert durch eine häufig verzerrte Wahrnehmung von Wandel. In der Umweltforschung nennt man dieses Phänomen «shifting baselines syndrom». Während es die alten Nordmänner noch gewohnt waren, Walrösser zu jagen und Rinder zu züchten, wuchsen nachfolgende Generationen bereits mit der Robbenjagd auf. Der Wandel war für sie kaum erkennbar, da sie einen anderen Referenzpunkt zur Wahrnehmung von «Normalität» heranzogen.

Die Aufgabe der Politik ist es, solche sich verschiebende Referenzpunkte erkennbar zu machen und die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen zu erleichtern. Wir haben heute die Möglichkeit, Technologien einzusetzen und datenbasiert neue politische Lösungen zu finden – sei es im Bereich der Mobilitätsplanung, die modular und holistisch über sämtliche Verkehrsteilnehmer hinweg erfolgen muss, oder der Ener­gie­politik, die auf möglichst dezentralen Strukturen basieren sollte, um Abhängigkeiten zu vermindern. Zukunft schaffen wir nur durch die Anpassung an den Wandel.

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