Sonntagsgedanken

Aktive Sterbehilfe für die Kirche auf dem Land?

von Christian Stettler, Pfarramt Flaach-Volken
31. August 2018

Am 23. September stimmen die reformierten Kirchenbürgerinnen und -bürger über die Revision der Kirchenordnung ab: Viele neue Regelungen, kaum jemand hat den Durchblick. Irgendwo mittendrin, ganz versteckt, ein Satz, der für das kirchliche Leben der Reformierten bei uns auf dem Land im Klartext aktive Sterbehilfe bedeutet: «Kirchgemeinden, die mehr als 2000 Mitglieder zählen, verfügen im Pfarramt über zusätzliche Stellenprozente» (Art. 117,2). Bisher gab es eine 100-Prozent-Pfarrstelle ab 1000 Mitgliedern, neu erst für 1800 bis 2000 Mitglieder. Künftig sollen die Pfarrstellen strikt linear zugeteilt werden: pro 200 Mitglieder 10 Prozent (aber mindestens 50 Prozent für jede Kirchgemeinde). Gemeinden mit unter 2000 Mitgliedern gehören zu den klaren Verlierern. Ein Beispiel: Die neu fusionierte Kirchgemeinde Flaachtal (vorher: Buch a.I., Berg a.I., Flaach-Volken) hatte vor der Fusion 220 Prozent zugut, neu wären es noch 100 Prozent. Hätten die Gemeinden nicht fusioniert, würden sie wenigstens drei Mal 50 Prozent erhalten …

Fakt ist, dass in jeder Kirchgemeinde ein Grundstock von pfarramtlichen Tätigkeiten anfällt: Einen Gottesdienst vorzubereiten braucht gleich viel Zeit, ob 20 oder 200 den Gottesdienst besuchen, das Gleiche gilt für Unterricht, Erwachsenenbildung, Jugend- und Altersarbeit. Andere Aufgaben werden mit mehr Mitgliedern auch mehr: Besuche, Taufen, Trauungen, Beerdigungen … Erfahrungsgemäss werden dafür pro 1000 Mitglieder ca. 20 bis 30 weitere Stellenprozente benötigt. In der revidierten Kirchenordnung sollen Gemeinden mit über 2000 Mitgliedern pro zusätzliche 1000 Mitglieder 50 Stellenprozente mehr bekommen, und nicht nur das, sie werden sogar noch «zusätzliche Stellenprozente» bekommen! Sie sind ganz klar die Gewinner. Wird das kirchliche Leben durch die Änderungen gefördert? Nein, das Geld wird nur vom Land in die Stadt verschoben. Die städtischen Gemeinden bekommen viel mehr Geld als bisher, die Gemeinden auf dem Land viel weniger.

Worum geht es denn in der Kirche? In der Apostelgeschichte 2,42+47 lesen wir über die ersten Christen: «Sie alle widmeten sich eifrig dem, was für sie als Gemeinde wichtig war: Sie liessen sich von den Aposteln unterweisen, sie hielten in gegenseitiger Liebe zusammen, sie feierten das Mahl des Herrn, und sie beteten gemeinsam. Sie priesen Gott und wurden vom ganzen Volk geachtet.» Gottesdienste («Lehre, Mahl des Herrn, Gebet und Gotteslob») können zentralisiert werden. In der Stadt suchen sich die Leute den Gottesdienst ohnehin schon lange selber aus. Aber auf dem Land sind erfahrungsgemäss nur wenige bereit, für den Gottesdienst an andere Orte zu fahren. Kirchgemeinden aus vielen Dörfern bringen deshalb automatisch einen Gemeindeabbau mit sich. Das andere: «Sie hielten in gegenseitiger Liebe zusammen», ist auf Überschaubarkeit angewiesen. Das funktioniert auf dem Land, wo man sich kennt, viel besser als in der Stadt. Wollen wir wirklich, dass das aktiv zerstört wird?

Nach Gerhard Schwarz, Präsident der Progress Foundation, herrscht heute eine «Faszination der Grösse». «Effizienzgewinne und Kostenvorteile» seien aber nur die eine Seite von Zusammenschlüssen. Ebenso eine Tatsache seien «überproportional steigende Kosten … der Koordination, der Kontrolle … sowie ein Rückgang der Eigenverantwortung des Einzelnen, der sich als kleines Rad einer grossen Maschinerie dünkt». Die Schlussfolgerung von Schwarz: Diese Nachteile dürften nicht unterschätzt werden. «Zusammen mit … Faktoren wie der stärkeren Bürgernähe … und umgekehrt der höheren Identifikation des Bürgers mit dem Ganzen spricht vieles für Kleinheit und Bescheidenheit.» («NZZ» vom 28.4.2018)

Deshalb: Nein zur Revision der Kirchenordnung am 23.9.!

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