Sonntagsgedanken

Herbst – Vertrauen im Abschied

von Sylvia Walter, Pfarrerin, Laufen am Rheinfall
21. Oktober 2022

Am Morgen liegen Nebelschleier über Wald und Wiesen und verbergen die Welt geheimnisvoll. Kaum etwas kann ich richtig erkennen. Langsam finden erste Sonnenstrahlen ihren Weg und lassen nach und nach eine wunderbare Herbstlandschaft aufleuchten. Die Blätter der Bäume sind bunt wie niemals sonst im Jahr. Die letzten Blumen blühen. Eine Fülle an Früchten liegt reif und farbenfroh für uns bereit. Es ist, wie wenn die Natur noch einmal ihre ganze Herrlichkeit zeigen will, bevor sie alles loslassen muss.

Doch ist der Herbst auch eine wehmütige Jahreszeit. Die letzten Rosen werden bald verblühen, die schönen Blätter werden zu Boden fallen. In Kürze werden Bäume und Sträucher kahl sein. Manche Bäume lassen ihre Blätter nur ungern los. Manchmal braucht es dazu einen richtigen Herbststurm. Der Herbst zeigt auf, dass Werden und Vergehen zum Leben gehören. Zu jedem Leben und in vielen Lebensbereichen. Neues entsteht, anderes müssen wir loslassen.

Loslassen, das ist so rasch gesagt und so schwer zu vollziehen. Loslassen müssen wir, wenn die Kinder grösser werden und ihre Schritte weiterführen, hinaus in die Welt. Loslassen, das können Trennungen sein, weil Menschen sich verändert haben. Loslassen gehört zum Älterwerden, wenn Menschen Abschied nehmen von der Berufswelt und vom Ideal der intakten Gesundheit.

Woher wissen wir, wann es sinnvoll ist, loszulassen? Vielleicht erfahren wir es im Gespräch mit Freunden, vielleicht im Gebet, vielleicht durch einen schmerzhaften Weg, einen Sturm in unserem Leben. Wie im Herbst der Nebel zuweilen die Sicht verschleiert, so fühlen wir uns auch im Leben, wenn wir etwas loslassen müssen. Wir sehen noch nicht recht, wie es weitergehen soll. Doch wie sich im Herbst der Nebel langsam lichtet, so erleben wir es auch, wenn wir etwas hinter uns lassen, zum Beispiel wenn die Kinder wegziehen oder unsere Kräfte abnehmen. Der Nebel in unserem Leben lichtet sich, neue Konturen werden erkennbar, Neues schickt sich an.

Was wir im Kreislauf der Jahreszeiten beobachten, das immerwährende Werden und Vergehen, erleben wir auch im Lauf des Lebens. Und ich glaube, dass auch beim allerletzten Loslassen und Abschiednehmen Neues auf uns wartet, wie es Rainer Maria Rilke in einem Herbstgedicht wunderbar formuliert hat:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Gott trägt uns bei jedem Loslassen, das uns zugemutet wird, in jeder Lebensveränderung. In allem Werden und Vergehen unseres Lebens ist er uns Trost und Zuversicht.

Wir vertrauen darauf, dass wir auf festem Grund unterwegs sind, denn Gott lässt seine Menschen nicht ins Nichts fallen, sondern hält uns für immer in seinen gütigen Händen.

War dieser Artikel lesenswert?

Zur Startseite

Zeitung Online lesen Zum E-Paper

Folgen Sie uns