Sonntagsgedanken

Jesus in Quarantäne

von Hans Peter Werren, Berg am Irchel, Pfarrer Kirchgemeinde Flaachtal
05. Februar 2021

Das Wort Quarantäne leitet sich vom Italienischen «quarantena» ab und bedeutet vierzig. Gemeint ist die 40-tägige Fastenzeit, die von Aschermittwoch bis Ostersamstag dauert, dieses Jahr vom 17. Februar bis 3. April. Die Fastenzeit vor Ostern ist bei uns bekannt und wird in den meisten Kirchen gelebt. Nach den beiden Hauptfesten folgt eine 40-tägige Freudenzeit: Die Weihnachtszeit dauert vom 25. Dezember bis zum 2. Februar (Maria Lichtmess) und die Osterzeit bis Christi Himmelfahrt.

Nach seiner Taufe wird Jesus vom Geist in die Wüste geführt. Er fastet dort 40 Tage und Nächte. Er ist in Quarantäne, allein, ungestört, in der Stille mit sich und Gott. Wer in der Einsamkeit sitzt und Stille hat, ist drei Kämpfen entkommen: den Kämpfen des Hörens, des Sprechens und des Sehens. Man hat nur einen einzigen Kampf zu bestehen, den des Herzens. Geh in deine Zelle, bleibe dort, und sie wird dich alles lehren, heisst eine alte Weisheit der Wüstenväter. Alle Menschen mit Wüstenerfahrungen berichten davon, dass Einsamkeit die erste Stufe der Himmelstreppe ist, die zur Seligkeit führt. Die grossen Religionen der Welt sind alle aus den Wüsten geboren, genauer: aus den Nächten der Wüste. Alles Grosse, Neue, Schöpferische in der Geschichte der Religion steigt aus den unergründlichen Tiefen des Gebets empor.

Keine Wüstenzeit verläuft ohne Versuchung. Jesus wird vom Durcheinanderbringer (so wörtlich das griechische Wort «diabolos») auf die Probe gestellt (Matthäus 4,1–11). Zuerst soll er Brot aus Steinen machen, um den Hunger dieser Welt ein für alle Mal zu stillen. Dann soll er durch einen kühnen Sprung den langen und oft mühsamen Weg abkürzen. Schliesslich soll er durch einen Kniefall, durch eine kleine Selbstaufgabe, zuoberst auf die Machtleiter steigen und alle anderen Anwärter hinter sich lassen. Jesus durchschaut das teuflisch-geniale Spiel des Widersachers und entscheidet sich für den menschlichen Weg: für das Teilen mit anderen Menschen, für das Gehen mit ihnen, für das Dienen mit ihnen.

Die Ausstellung des Gemäldes von Iwan Kramskoi hat den grossen russischen Dichter Fjodor Dostojewski, dessen 200. Geburtstag wir dieses Jahr feiern, zu seinem Gespräch mit dem Grossinquisitor in seinem letzten Roman «Die Brüder Karamasow» inspiriert. Der im Dialog in der Rolle des Versuchers auftretende Grossinquisitor spielt die Konzepte Freiheit und
Sättigung als unversöhnliche Gegensätze menschlichen Verlangens gegeneinander aus. Für Sättigung kann das umfassendere Konzept Sicherheit gesetzt werden. Auch heute, angesichts wachsender Bedrohung durch Terror, lokale Kriege und Pandemie, wird Sicherheit zunehmend zur dominie­renden Forderung. Die Voraussage des Grossinquisitors, freie Menschen könnten ihre Freiheit opfern zugunsten von Sättigung und Sicherheit, wird immer realistischer. Wofür entscheiden Sie sich?

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