Sonntagsgedanken

Zu den Bergen

von Eva Tobler Gasser, Pfarrerin Rheinau-Ellikon
07. September 2018

Mehr als andere Monate lädt der September ein, den Rucksack zu schultern und über Hügel und Berge zu wandern. Die Temperaturen sind angenehm, das Wetter stabiler als im Sommer, und meist ist noch überall, selbst im Hochgebirge, ein Durchkommen ohne Schnee. Und wer sich nicht ins Gebirge wagt, geniesst doch gerne die Aussicht in die Berge, «hebt seine Augen auf zu den Bergen», wie es im ersten Vers des 121. Psalms heisst. Dieser gehört zu den alttestamentlichen Wallfahrtspsalmen. «Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen», so beteten einst die Israeliten auf dem Weg zum Tempel oder zu den Gebets- und Opferstätten in den Bergen Judas. Der Blick nach oben – dem Himmel und der Unendlichkeit entgegen. Und dann die Frage: «Woher kommt mir Hilfe?» (Ps 121,1)

Auch wir heutigen Menschen nehmen viele Wege unter die Füsse, weil wir diese Frage in uns tragen. Im Unterwegssein suchen wir Ruhe und Erholung und oft auch Antworten auf unsere Fragen. Auf einem Gipfel zu stehen, empfinden wir als befreiend, und das von manchen kritisierte Gipfelkreuz ist für andere – und vermutlich sind sie immer noch in der Mehrzahl – stimmig oder löst gar fromme Gefühle aus. Vielleicht sind diese unten im Tal dann wieder vergessen – im Lärm und in der Hektik des Alltags. Aber oben auf dem Gipfel ist noch zu erfahren, was die Menschen schon vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren erlebten: «Meine Hilfe kommt vom Herr, der Himmel und Erde gemacht hat.» Das heisst, wir können spüren, dass wir und die Schöpfung gleichen Ursprungs sind und dass wir aus diesem Ursprung Heilendes und Behütendes erfahren.

Allerdings macht der Psalm klar, dass die Hilfe nicht von den Bergen kommt, nicht aus der Natur also, nicht so, wie so mancher Nicht-Kirchgänger sich entschuldigt mit dem viel gehörten Satz: «Mein Gott ist am Sonntagmorgen der Wald.» Die Bibel kennt nur den Gott als personales Gegenüber. Es ist der Schöpfergott, der diese Welt durch sein Wort erschaffen hat und uns Menschen als Wortwesen. Über das Wort, das Gebet, das Denken treten wir mit Gott in Beziehung. So sieht die Bibel Gott und uns Menschen. Durch die Bibel erfahren wir Gott als persönlichen Gott. Der 121. Psalm ist ein gutes Beispiel dafür. Gott wird zum Schutzengel, wie wir ihn uns nicht schöner denken können: «Der Herr ist dein Hüter, der Herr gibt dir Schatten, er steht dir zur Seite. Der Herr behütet dich vor allem Bösen, er behütet dein Leben.» (Ps 121,5.7)

Aber begehren wir das überhaupt noch? In unserer Gesellschaft gibt es eine starke Tendenz weg von diesem jüdisch-christlichen Gott hin zu einer esoterischen Göttlichkeit, die dann gerne als «Universum» oder ähnlich angesprochen wird. Ein persönlicher Gott, der uns nahesteht, uns kennt, sein Auge auf uns richtet, scheint vielen Menschen veraltet und mit schlechten Erfahrungen behaftet. Paradoxerweise und im Gegensatz dazu haben Schutzengel in jeder Grösse und Form und in jedem Material geradezu eine inflationäre Gegenwart in unserem Alltag. Sie sitzen auf fast jedem Grab, zieren Autos so gut wie Handtaschen. Ja, wir sind zu einer Gesellschaft von Widersprüchlichen geworden. Vielleicht haben Sie am Wochenende mal etwas Zeit, um dar­über nachzudenken.

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