Sport

Das Eis ist ihr Element

Estelle Solène Hari fühlt sich wohl im Eiskanal. Die 17-Jährige rast regelmässig mit 130 km/h den Berg hinunter – und das kopfvoran. Gefährlich sei ihr Sport aber nicht, versichert sie.

von Manuel Sackmann
10. Dezember 2019

Von klein auf verbrachte Estelle Solène Hari viel Zeit an der Bobbahn in St. Moritz – der einzigen Natureisbahn der Welt. Schon ihre Mutter sei vom Bobsport begeistert gewesen, sagt die 17-Jährige aus Grüt bei Gossau ZH. Sie selbst fährt zwar den gleichen Eiskanal hinunter, doch mit einem anderen Gerät: Skeleton. Dabei handelt es sich um einen flachen Schlitten, den man auf dem Bauch liegend kopfvoran den Berg hinuntersteuert.

«Während einer Minute und 40 Sekunden bestimme nur ich, wo es langgeht», beschreibt Estelle Solène Hari ihre Leidenschaft. Mit 14 nahm sie ihre erste Schnupperfahrt in Angriff, seither trainiert sie fast jede freie Minute. Dass sie einen Wintersport betreibt, kommt nicht von ungefähr. «Das Eis ist mein Element», so die angehende Fachfrau Betreuung. Zuvor spielte sie aktiv Curling, doch da fehlte ihr die Geschwindigkeit. «Ich wollte etwas anderes machen, aus der Reihe tanzen.»

Von Rheinau nach St. Moritz
Um Training und Beruf unter einen Hut zu bringen, braucht es Flexibilität. Die Jugendliche, die ihr erstes Lehrjahr im Wohnheim Tilia in Rheinau absolviert, arbeitet im Schichtbetrieb. «Für mich spielt es aber keine Rolle, ob ich am Morgen oder am Abend trainiere», sagt sie. Um im Skeleton erfolgreich zu sein, brauche es Beweglichkeit und Kraft. Sie besucht deshalb wann immer möglich Leichtathletiktrainings, macht Sprints für einen optimalen Start, aber auch das Mentale vernachlässigt sie nicht. «Es geht darum, im Eiskanal nicht über Fehler nachzudenken, sondern einfach weiterzufahren.»

Im Winter verbringt sie fast alle freien Tage und Wochenenden in St. Moritz oder sogar in Innsbruck. Die langen Reisen nutzt sie, um für die Schule zu lernen oder einfach abzuschalten. Im Sommer, wenn ihr kein Eiskanal zur Verfügung steht, benutzt Estelle Solène Hari oft einen Schlitten mit Rädern, der Schienen entlang geschoben wird. Eine solche Anlage für das Anschubtraining findet sie beispielsweise in Dinhard – unweit ihres Arbeits- und temporären Wohnorts Rheinau.

In Fahrtrichtung schielen
Donnert die 17-Jährige die Bobbahn hinunter, steuert sie hauptsächlich mit den Schultern. «Zudem gilt es, den Blick dahin zu richten, wo man hinfahren will.» Viel sieht sie dabei aber nicht. Da sich der Kopf unmittelbar über dem Eis befindet, kann die Schlittenpilotin nur in Fahrtrichtung schielen. «Das Wichtigste ist daher, dass man den Streckenverlauf auswendig kennt.»

Bis 130 km/h erreicht Estelle Solène Hari im Kanal, Profis werden sogar noch schneller. Das habe viel mit Erfahrung zu tun, sagt sie. «Da hilft nur: lernen, lernen, lernen.» Zu diesem Zweck schaut sie häufig den Profis zu und tauscht sich mit ihnen aus. Direkt oder über soziale Medien.

Bobbahnen scheinen so, als ob sie die Fahrt vorgeben. Doch sie hätten Tücken, gerade St. Moritz. Denn eine Natureisbahn sei niemals gleich. Vor allem zu Beginn der Saison dauere es eine Weile, bis sich die Kurven anfühlten wie im Vorjahr. «Aber das Eis ist glatter», so die Expertin. Insbesondere auf Geraden fliege man förmlich. «Da  muss ich einfach wie ein Brett auf dem Schlitten liegen und darf mich nicht bewegen.» Sonst drohe der Schlitten, in die Seitenwände abzudriften. Gut, dass der Skeleton etwas mehr Raum für Fehler lässt als beispielsweise ein Bob, da der Schwerpunkt tiefer liegt. Dafür kann das Gefährt auch gerne einmal kippen, wenn eine Kurve nicht optimal erwischt wird. «Da muss man dann schauen, wie man im Rutschen wieder auf den Schlitten kommt», sagt die Wintersportlerin.

Den Schlitten beherrschen
Gefährlich sei der Sport indes nicht, ist Estelle Solène Hari überzeugt. «Ausser gelegentlich ein paar blaue Flecken passiert selten etwas.» Und das, obwohl die Fahrer, abgesehen vom Helm, kaum Protektoren tragen. Ganz ohne Unfälle ist sie aber nicht geblieben. Bei einer ihrer ersten Fahrten von ganz oben in St. Moritz kollidierte sie mit einer hervorstehenden Ecke in der Wand. «Da katapultierte es mich regelrecht vor meinen Schlitten.» Viele hätten damals gedacht, jetzt lasse sie den Sport bleiben. Für Estelle stand das aber nie zur Debatte. «Das gehört dazu», sagt sie. Und auch wenn sie heute den Eiskanal hinunterrase, sei der Vorfall aus dem Kopf gelöscht. Sie sagt sich: «Ich muss den Schlitten beherrschen, nicht er mich.»

Im Moment fährt die Grütnerin nur wenige Wettkämpfe. Mittelfristig sind aber Starts im Europacup das Ziel, später die Teilnahme am Intercontinentalcup und letztendlich natürlich im Weltcup. Wann der nächste Schritt erfolgen soll, ist derzeit aber noch unklar. «Meine Mutter sagt, nächstes Jahr.» Dann habe sie das erste Lehrjahr hinter sich und sei im Job angekommen. Doch weder Mutter noch Tochter wollen es überstürzen, die Ausbildung geht vor. «Eine Sportkarriere kann schnell zu Ende sein», so Estelle Solène Hari. «In dem Fall will ich nicht vor dem Nichts stehen.» Eine reife Einstellung, die hoffentlich mit einem langen und erfolgreichen Sportlerleben belohnt wird.

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