Sport

Den Traum wahr gemacht

Ruedi Koradi ist ein leidenschaftlicher «Gümmeler». Seit seinem 60. Geburtstag begleitete ihn der Wunsch, mit dem Velo bis in den Stiefelabsatz Italiens zu radeln. Dieses Jahr setzte er die Idee in die Tat um.

von Manuel Sackmann
23. September 2022

Velofahren und Italien. Beides passt für Ruedi Koradi bestens zusammen. Er sei in seiner Freizeit regelmässig auf dem Rennvelo anzutreffen, erklärt der Oberneunforner. Und er habe es gerne warm, sei schon mehrmals an den Giro d’Italia gereist. «Zudem ist im Süden das Essen gut.» Da überrascht es nicht, dass sich der 68-Jährige in den Kopf setzte, alleine auf zwei Rädern ganz Italien zu durchfahren.

«Seit ich 60 war, sagte ich: ‹Ich fahre einmal in den Stiefelabsatz hinunter.›» Warum genau in den Absatz und nicht in die noch etwas südlicher endende Spitze, könne er sich auch nicht mehr erklären. «Aber als die Idee einmal im Kopf war, gab es kein Drumherum mehr», so Ruedi Koradi.

Von Anfang an war für ihn jedoch klar, dass es nicht einfach der schnellste Weg werden sollte. Er wollte alle drei Meerseiten Italiens sehen und unbedingt die Toscana durchqueren. 2018 machte er sich erstmals auf, den Wunsch in die Tat umzusetzen – nur um bereits am Comersee wieder aufzugeben. Das kurz zuvor operierte Knie war stark angeschwollen und zwang ihn zur Umkehr.

2000 Kilometer in 20 Etappen
Doch die Idee blieb. Nach zwei Coronajahren wagte er am 27. Mai dieses Jahres einen erneuten Versuch. 20 Etappen in ebenso vielen Tagen sollten ihn gut 2000 Kilometer weit und über 15'000 Höhenmeter an sein Ziel in Santa Maria di Leuca führen. Die Route plante er vorgängig mit einer speziellen Velo-App. Solo und nur mit knapp zehn Kilogramm Gepäck verteilt auf zwei Satteltaschen an seinem Tourenvelo und einen Rucksack machte er sich auf den weiten Weg gen Süden.

Zur Navigation nutzte er einzig den Velocomputer und das Handy, eine physische Karte nahm er nicht mit. Zunächst führte ihn seine Reise an den Comersee, dann durch die Po-Ebene und über den vom Giro d’Italia bekannten Passo della Cisa, ehe er an der Westküste des Landes erstmals auf Meer traf. Danach ging es quer durch die Toscana, der Adriaküste im Osten Italiens entlang hinab, um die Gargano-Halbinsel (den Sporn des Stiefels) und schliesslich in den Absatz und somit an die Südküste.

Von Höhlen und Hütehunden
Trotz fein säuberlicher Planung: Ganz so einfach sei die Navigation nicht gewesen. «Die Velo-App führte mich häufig über ‹Lölistrassen›, die auf Dauer unangenehm zum Fahren sind», erzählt Ruedi Koradi. Schon als er in der Po-Ebene ständig Kieswege vor sich gehabt habe, habe er fast die Nerven verloren. Später wechselte er deshalb zu Google Maps. Fortan waren auch vermehrt Hauptstrassen sein Terrain.

Doch auch das neue Navi hatte seine Tücken. «Einmal schickte es mich auf einem schmalen Pfad einen Hügel hoch, direkt vor eine Höhle.» Weiter ging es an dieser Stelle nicht, also musste er umkehren. «Für die Moral ist das immer sehr schwierig.»

Ein andermal gelangte er in eine Kiesgrube und war plötzlich von sieben aggressiven Hütehunden umzingelt, die sich in den Satteltaschen festbissen. «Ich habe mir fast in die Hosen gemacht», sagt der Neunforner. Doch er wisse, bei Hunden dürfe man niemals trampeln. Also entfernte er sich im Schritttempo, und erst als er die Grube verlassen hatte, liessen die Hunde ihn in Ruhe.

Hilfe aus der Heimat
Übernachtet habe er jeweils in Hotels oder Gasthäusern. Die tägliche spontane Organisation eines Zimmers erwies sich jedoch als schwieriger als gedacht. Spätestens als in Italien die Ferien begannen, wurde es beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Glücklicherweise bot sich Ruedi Koradis Schwiegersohn als Gehilfe an. Von zu Hause aus buchte er für jede Etappe laufend eine passende Unterkunft.

Dort angekommen, galt immer die gleiche Reihenfolge: «Duschen, Waschen und dann ein Bier.» Wobei: Die ersten beiden Traktanden konnten gleichzeitig erledigt werden. Ex-Radprofi Godi Schmutz, den er gut kenne, habe ihm diesen Tipp auf den Weg gegeben: «Ich ging direkt in den Velokleidern unter die Dusche, das Duschgel diente zugleich als Waschmittel. Anschliessend trampelte ich die Wäsche am Boden aus und liess sie trocknen.» So hätten es die Radrennfahrer früher getan, als sie noch selbst für ihre Wäsche verantwortlich gewesen seien.

An das Hupen gewöhnt
Unterwegs erlitt das Velo des 68-Jährigen nur einmal einen Defekt. Bereits tief im Süden stellte er eines Morgens fest, dass der Reifen platt war. Der Besitzer des Hotels, in dem Ruedi Koradi übernachtet hatte, fuhr ihn kurzerhand persönlich samt Velo zum Mechaniker – in einem Fiat Punto. «Es wurde ziemlich eng», so der Neunforner lachend.

Überhaupt erlebte er die Italiener als sehr veloaffin, hilfsbereit und unkompliziert. Und entgegen des Klischees des temperamentvollen Südländers hätten sie sich sogar im Verkehr äus­serst rücksichtsvoll verhalten. «Sie hupten zwar immer im Vorbeifahren, womit ich anfangs Mühe hatte», sagt er. «Doch bald merkte ich, dass sie das nicht tun, um zu reklamieren, sondern um mich vor dem Überholmanöver zu warnen.»

Unterwegs viel zu tun
20 Tage war Ruedi Koradi unterwegs, bis er an seinem Ziel in Santa Maria di Leuca ankam. Immer alleine. Wird einem da unterwegs nicht langweilig? «Im Gegenteil», findet der leidenschaftliche «Gümmeler». Die Strassen und Wegweiser seien oft schlecht, er sei daher ständig mit der Navigation beschäftigt gewesen. Und wenn das und die schöne Landschaft einmal nicht Unterhaltung genug waren, konnte er immer noch die Kilometer zählen. «Das Wichtigste ist, keine negativen Gedanken zuzulassen.» Und dass er alleine war, erachtet er als Vorteil. «Ich konnte anhalten, wann ich wollte, hatte keine Diskussionen und musste auf niemanden Rücksicht nehmen.»

Erst in Santa Maria di Leuca gönnte sich Ruedi Koradi einige Ruhetage. Danach sattelte er den Drahtesel erneut, um den Stiefelabsatz wieder ein Stück hochzuradeln. In zwei weiteren Etappen fuhr er bis Brindisi, wo der Heimflug auf ihn wartete. Bevor er aber in den Flieger steigen konnte, musste er eine passende Kartonschachtel auftreiben, um sein Tourenvelo verpacken und als Sperrgut aufgeben zu können. Erst nach längerer Suche wurde er in einem Sportgeschäft fündig. Am 22. Juni ging es nach Hause in den Thurgau.

War dieser Artikel lesenswert?

Zur Startseite

Zeitung Online lesen Zum E-Paper

Folgen Sie uns