Der Traum von Olympia

«Riders ready? Attention. Go!» Das Prozedere am Start eines Snowboardcross-Rennens ist immer gleich: Sobald die Klappen der Startanlage geschlossen sind, werfen sich vier Athleten gleichzeitig aus dem Gate. Einmal auf der Piste, gilt es, sich trotz Elementen wie Sprüngen, Steilwandkurven, Engstellen und Bodenwellen im Gerangel zu behaupten und möglichst als Erste die Ziellinie zu überqueren. Seit ihrem elften Lebensjahr traut sich Lilith Kuhnert auf dieses waghalsige Unterfangen. Mit Erfolg: Die Uhwieserin ist Mitglied des deutschen Nationalteams.

Lilith Kuhnert fand eher zufällig zum Snowboardcross (SBX). In den Skiferien in Deutschland sprach sie ein SBX-Trainer auf ihre Snowboard-Künste an und lud sie zum Training ein. «Ich bin da einfach reingerutscht», sagt sie. Den deutschen Pass hatte sie bereits, und so blieb sie auch dem deutschen Verband treu. «Das war kein Entscheid gegen die Schweiz, sondern einer für Deutschland.»

Sechs Trainings pro Woche
Heute ist die 17-Jährige zweifache deutsche Jugendmeisterin und entschied bereits fünf Mal in Folge die Baden-Württemberg-Meisterschaft für sich. Der Erfolg kommt aber nicht von ungefähr: Sechs Mal in der Woche trainiert Lilith Kuhnert – im Winter steht sie manchmal sogar an allen sieben Wochentagen auf dem Brett. Ausgang, Freunde treffen und weitere Hobbys müssen oft hintanstehen. «Manchmal denke ich schon, es wäre schön, mehr Zeit für anderes zu haben. Aber ich weiss, wofür ich trainiere», so die Uhwieserin. Und ihr Traum ist derselbe wie bei so manchem Sportler seit der Antike: Sie will an die Olympischen Spiele.

Ihr Fahrplan sieht die Spiele 2022 in Peking vor. «Olympionikin zu werden, ist das Grösste, was eine Sportlerin erreichen kann.» Dabei sei das Resultat nicht vordergründig: «Wenn du im Olympiagate am Start stehst, weisst du, dass sich alle Entbehrungen gelohnt haben», so Lilith Kuhnert. Bis dahin will sie sich im Weltcup etablieren und einen Platz in den Top 50 der Weltrangliste erreichen. Gegenwärtig fährt Lilith Kuhnert noch Junioren- und Europacuprennen. Beim Saisonauftakt Mitte Dezember fuhr sie im französischen Isola im Juniorenrennen auf den sechsten Platz. Erstmals olympische Luft schnuppern kann die 17-Jährige schon übernächste Woche: Lilith Kuhnert ist für die deutsche Auswahl an den Olympischen Jugend-Winterspielen in Lausanne nominiert. Eine Medaille sei ein Traum, «aber auch da gilt für mich: Dabei sein ist alles.»

Keine Zeit für Heimweh
Training in Deutschland und Schule in Uhwiesen – das konnte keine dauerhafte Lösung sein. Um beides optimal verbinden zu können, zog Lilith Kuhnert bereits als 14-Jährige aus dem Elternhaus ins Skiinternat in Oberstdorf. Dort finden sich für Wintersportler jeglicher Sportarten eine optimale Infrastruktur und viel Fachwissen von Experten. Gleichzeitig besucht sie das örtliche Gymnasium, bekommt aufgrund ihres Trainingsaufwands aber regelmässig Freistunden. «So jung auszuziehen, war schon heftig. Aber ich war von Beginn an so viel mit SBX beschäftigt, dass ich gar keine Zeit für Heimweh hatte.»

Im SBX kämpft Frau gegen Frau im K.o.-System. Um sich im Ringen um die vorderen Plätze durchzusetzen, ist mentale Stärke gefragt. Sportpsychologie nimmt denn auch einen wichtigen Anteil des Alltags im Skiinternat ein. «Wenn du im Startgate stehst, muss es  im Kopf stimmen.» Erst danach kämen Faktoren wie Kraft oder Ausdauer zum Zug.

Auch Zusammenstösse, Stürze und Ausfälle sind auf der engen Piste keine Seltenheit. Rarer, aber im Training schon mehrmals vorgefallen, sind Beinaheunfälle mit Touristen, die sich auf die SBX-Strecke verirren. Kurz vor einer Schanze staune man schon, wenn vor einem plötzlich ein Skifahrer stehe. In solchen Fällen weichen die SBX-Fahrer notfallmässig aus und nehmen einen Sturz in Kauf. «Lieber hocken wir Fahrer aufs Füdli, wir sind sturzerprobter.»