Sport

Vorfreude auf die Glücksgefühle

Für ihren ersten Marathon hat Jeannette Gut den Jungfrau-Marathon ausgewählt. Eine gute Wahl, findet Jean-Jacques Fasnacht. Er nimmt diese 42,2 Kilometer am Samstag zum etwa 20. Mal in Angriff.

von Roland Spalinger
06. September 2022

Sie fand, ihr Mann hätte am Winterthurer Halbmarathon ein bisschen schneller laufen können. Er meinte: «Machs doch besser.» Das war 2012. Und so wurde aus Jeannette Gut, die bis dahin ein bisschen joggte, eine ambitionierte Läuferin. Ein Vorbereitungskurs für den Halbmarathon zog ihr die Turnschuhe dann ganz ein.

Startnummern an der Pinnwand im Wohnzimmer zeugen von vielen Starts – Rheinfalllauf, Wylandlauf, Hegemer Chlauslauf, Frauenlauf, Silvesterlauf. Und bald kommt eine exklusive Nummer dazu: Am Samstag wagt sich die 52-Jährige aus Thalheim an den Jungfrau-Marathon. Start ist in Interlaken auf 568 Metern über Meer, das Ziel nach 42,195 Kilometern und 1953 Höhenmetern auf dem Eigergletscher auf 2320 Metern.

Verspätetes Geburtstagsgeschenk
War­um tut man sich das an? Das werde sie sich wohl unterwegs auch einmal fragen, meint sie schmunzelnd. Schliesslich werde sie aber finden, dass es doch schön sei. «Die Aussicht entschädigt», weiss sie. Und sie laufe nicht gerne immer nur geradeaus und lieber auf- als abwärts. Als eine Laufkollegin vom Verein Finishers Winterthur, in dem sie seit vier Jahren trainiert, sagte, den Jungfrau-Marathon müsse man einmal gemacht haben, wollte sie sich diesen Lauf zum 50. Geburtstag schenken. Doch dann kam Corona.

Nun ist es aber so weit. Start ist um 8.30 Uhr. Jeannette Gut ist vorbereitet, wird aber nervös sein. Im Februar hat sie sich angemeldet, seit Juni liegt ihr Fokus auf diesem Event. In Trainings hat sie bereits einmal die Marathon­distanz gemacht, mehrere Male lief sie 20, 25, 30 und 36 Kilometer. Und dreimal ist sie von Unterwasser auf den Chäserrugg gerannt. Ihr Höhentraining.

Sie sei auch im Kopf parat, glaubt sie, und zweifle trotzdem. Denn nicht nur der Weg ist für Jeannette Gut das Ziel. Die Hauptsache sei schon, oben anzukommen. Aber sie kenne sich und setze sich auch selber unter Druck. Eingeteilt hat sie sich im Startblock 4:40 bis 5:15. «In vier bis fünf Stunden will ich oben sein», sagt sie bestimmt.

Ein «Jungfrau-Routinier»
«Sie wird es zweifelsohne schaffen», meint Jean-Jacques Fasnacht (70). Der Haus- und Sportarzt kennt die Thalheimerin zwar nicht, aber den Lauf. Zum geschätzten 20. Mal nimmt er am Samstag teil. Für ihn ist definitv der Weg das Ziel. Wenn alles klappe, komme er gerade noch vor Zielschluss am Eigergletscher an. Das sei zwar «mehr als zweieinhalb Stunden später als zu meinen besten Zeiten», aber unter den ersten 50 seiner Alterskategorie – so viele nehmen den Weg noch auf sich.

Der Lauf im Berner Oberland gehöre zu seinen liebsten Marathons. «Du rennst sozusagen in das überwältigende Bergpanorama Eiger, Mönch und Jungfrau!» Legendär sei eine Stelle weiter unten bei Lauterbrunnen, «The Wall» genannt.

Bis dahin gelte es, nicht zu überpowern. «Lauf dein Tempo, renne deinem Atem nicht davon. Wenn du die wunderbare Umgebung, die spezielle Ambiance, den Geruch der frisch gemähten Wiesen und die Bergluft nicht mehr geniessen und wahrnehmen kannst, dann bist du zu schnell! Und auch, wenn du mit deinen Mitläuferinnen und -läufern nicht mehr ein Wort wechseln kannst und magst!», sagt und rät er.

Zu Pink Floyd den Berg hoch
Und dann, nach diesen 26 eher gemächlichen Kilometern mit leichter Steigung, kommt sie, die Wand. Auf den nächsten fünf Kilometern sind 500 Höhenmeter zu bewältigen. «Sinnigerweise lässt ein Verpflegungsposten just in dieser Wand in voller Lautstärke Pink Floyds ‹Another Brick In The Wall› laufen», erzählt Jean-Jacques Fasnacht.

Von der Stelle in Lauterbrunnen, wenn man «diese Wand» sieht, hat Jeannette Gut schon gehört. Und vor der Steigung hat sie Respekt. Sowie vor der letzten, bei der es wohl nur noch dar­um gehe, mental durchzuziehen. Laut Jean-Jacques Fasnacht werden auf der steilen Moräne auch sehr gute Läuferinnen und Läufer die letzten Kilometer im schnellen Berggang bewältigen. Bei ihm selber werde es Schritttempo sein.

Bei seiner ersten Teilnahme war der Arzt mit Praxis in Mar­tha­len noch ein ordentlicher Ultramarathonfreak. Mit der Erfahrung von Läufen wie 100 km von Biel und Swissalpine Marathons sei er für den Jungfrau-Marathon austrainiert gewesen. Nun gestaltete er sein Training nach dem Motto je älter, je gelenkschonender, mit drei bis vier Einheiten pro Woche zwischen einer und eineinhalb Stunden, zwei Drittel mit dem Velo, ein Drittel joggen in meditativem Tempo. Die letzten zwei Wochen standen Bergwanderungen mit seiner Frau Bea auf dem Plan. Nicht optimal war, dass er sich am Anfang der Ferien eine Zerrung im Oberschenkel einfing. Wichtig und für Anfänger manchmal schwierig sei, eine Woche vor dem Lauf das Training stark zu reduzieren, Kräfte zu sammeln und die Ernährung anzupassen.

Euphorie pur im Ziel
Vor dem Wettkampf wird Jeannette Gut ein Müesli mit Haferflocken essen und sich während dem Lauf zwingen, an den Verpflegungsposten oder alle 40 Minuten etwas Salzhaltiges zu sich zu nehmen, Bouillon zum Beispiel. Das sei sie sich halt nicht so gewöhnt. Im Ziel werde sie jubeln und sich freuen, dass das, was seit der Anmeldung im Februar in ihrem Kopf gewesen war, vorbei und geschafft sei. Und einen Kaffee trinken.

Der Zieldurchlauf sei ein echt befreiendes Gefühl, sagt Jean-Jacques Fasnacht. Man sei von Glückshormonen eingehüllt und absolviere die letzten Meter auf einer Glückswolke. Er freut sich im Ziel auf eine ganz herzliche Umarmung und einen dicken Kuss von seiner Frau. Und auf ein Bier! Und sein bleibendstes Erlebnis? «Die Zielankunft der total euphorisierten Bea an ihrem ersten Marathon überhaupt vor 20 Jahren. Ich hatte ihr den Start zu Weihnachten geschenkt!»

"On fire!", schreibt Jean-Jacques Fasnacht zu diesem Bild. Er kam nach 6:41 Stunden ins Ziel.
"On fire!", schreibt Jean-Jacques Fasnacht zu diesem Bild. Er kam nach 6:41 Stunden ins Ziel. / zvg
Jeannette Gut hatte nach 26 Kilometern mit Krämpfen zu kämpfen. Für ihren ersten Jungfrau-Marathon benötigte sie schliesslich 5:22 Stunden.
Jeannette Gut hatte nach 26 Kilometern mit Krämpfen zu kämpfen. Für ihren ersten Jungfrau-Marathon benötigte sie schliesslich 5:22 Stunden. / zvg

Update: Beide Weinländer erreichten das Ziel

Sowohl Jeannette Gut als auch Jean-Jacques Fasnacht haben am Jungfrau-Marathon das Ziel erreicht. Der Routinier mit Jahrgang 1950 in der Kategorie Männer 70 nach 6:41 Stunden, die Thalheimerin bei ihrer ersten Teilnahme nach 5:22 Stunden. Er wurde in seiner Kategorie 25. von 32 Finishern, sie 19. von 95. Die ersten 26 Kilometer sei sie in ihrer erwarteten Zeit gelaufen, erzählt Jeannette Gut. Danach sei es zäh geworden. Krämpfe plagten sie, drei Mal begab sie sich in physiotherapeutische Behandlung, lief aber weiter. Aufgeben war keine Option. Im Ziel auf dem Eigergletscher – wie die meisten passierte sie die Linie im Schritttempo – reichte eine Betreuerin eine Tasse Kaffee. Bei Haus- und Sportarzt Fasnacht war am Samstagmorgen die im Training eingefangene Zerrung noch nicht ganz ausgeheilt. Trotzdem startete und finishte er einmal mehr. Ins Ziel kamen auch andere Weinländerinnen und Weinländer, zum Beispiel Patrick Häuptli aus Andelfingen. Der OK-Präsident des Wyland-Laufs war 5:28 Stunden unterwegs. (spa)

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