Weinland

Der weite Weg der Wirkstoffe

Erst war es WC-Papier, dann wurden Computerchips und Baumaterialien knapp. Jetzt sind in ganz Europa Medikamente Mangelware. Das spüren Kranke bis ins Weinland.

von Tizian Schöni
27. Juni 2023

Immer wieder war es Anfang Jahr in den Medien zu lesen: In der Schweiz fehlen Medikamente. Ob Hustensirup für Kinder, Psychopharmaka oder Antibiotika – bis zu 1000 kassenpflichtige Arzneimittel waren betroffen. Der Bund führt auf seiner Website nur die Versorgungsengpässe von lebenswichtigen Medikamenten auf, noch heute stehen auf dieser Liste rund 150 Produkte.

Diese Knappheit ist auch im Weinland zu spüren. «Wir hatten einige besorgte Eltern im Laden», sagt Laura Huber, Geschäftsführerin der Wyland Apotheke in Andelfingen. Anfang Jahr hätten Schmerzmittel für Kinder gefehlt. Bei Entzündungen von Hals und Rachen oder auch bei Kopfschmerzen helfe in den meisten Fällen der Wirkstoff Ibuprofen. Für Kinder werde dieser in Form eines Sirups angeboten, da die Dosierung gewichtsabhängig variabel verabreicht werden müsse. Diese Sirups waren im Winter 2022/23 jedoch kaum zu beschaffen.

Um auf solche Engpässe zu reagieren, können Apothekerinnen und Apotheker in der Regel auf ein gutes Netzwerk zählen. Oft hätten andere Geschäfte das Medikament noch vorrätig. «Dann telefonieren wir in der Region herum, bis wir etwas finden.» Oder man beziehe die Produkte bei demjenigen der drei Schweizer Pharma-Grossisten, der noch liefern könne, so Laura Huber. Im Notfall könne man immer noch auf ein ähnliches Medikament ausweichen. «Normalerweise gibt es etwa fünf Präparate von unterschiedlichen Firmen.»

Aber gerade das war bei den Sirups fĂĽr Kinder besonders schwierig. Aufgrund der derart hohen Nachfrage sei damals absolut nichts lieferbar gewesen.

Was ist knapp?
Die erhöhte Nachfrage nach einem bestimmten Medikament, zum Beispiel aufgrund einer Grippewelle, ist nicht die einzige Ursache für Knappheiten. Paradoxerweise sind Störungen gerade bei jenen Medikamenten häufig, die sich verhältnismässig einfach herstellen liessen.

Zum Beispiel bei Panadol. Denn die Produktion des Schmerzmittels kann in Europa – und speziell in der Schweiz – nicht mehr kostendeckend betrieben werden. Ein Medikament wie dieses ist längst ohne Patentschutz. Das heisst, es können ähnliche Produkte mit derselben Rezeptur von anderen Firmen hergestellt und vermarktet werden. Eine der beliebtesten Kopien von Panadol heisst Dafalgan. Solche Generika drücken den Preis zusätzlich. Weil Sicherheits- und Bewilligungsprozesse für biotechnologische Betriebe in Asien bei Weitem nicht so streng sind wie in Europa und das Lohnniveau massgeblich tiefer ist, lassen sich Medikamente dort viel günstiger herstellen.

Diese Umstände haben zu einer geografischen Verlagerung und Kon­zen­tra­tion einer wichtigen Gruppe von Pharmafirmen geführt: der Wirkstoff-Hersteller. Sie produzieren – wie der Name sagt – den arzneilich wirksamen Teil eines Medikaments, der bei Patientinnen und Patienten eine Reaktion auslöst und nicht zum Beispiel als Träger benutzt wird. Bei Panadol ist das der Wirkstoff Paracetamol.

Laut der Studie eines Interessen­verbands waren im Jahr 2000 noch rund 60 Prozent solcher Wirkstoffhersteller in Europa ansässig, 30 Prozent in Asien. 2020, als die Studie zuletzt erhoben wurde, war es genau umgekehrt. Für jeden sechsten Wirkstoff gibt es gar keinen europäischen Hersteller mehr. Zudem kon­zen­triert sich die Produktion vieler Wirkstoffe immer stärker auf nur wenige oder sogar nur einen einzigen Produzenten.

Diese geografische Kon­zen­tra­tion macht die Lieferkette anfällig. Man stelle sich zum Beispiel vor, ein Hersteller müsse aufgrund von Qualitätsmängeln seine Produktion einstellen oder entscheide sich, ob freiwillig oder unfreiwillig, bestimmte Märkte nicht mehr zu bedienen. Ein Containerschiff blockiere den Suez-Kanal. Oder Zwischenprodukte stünden nicht zur Verfügung. «Da Medikament, Verpackung und Beipackzettel an verschiedenen Orten hergestellt werden, kann bereits das Fehlen von etwas zum Stillstand führen», sagt Laura Huber.

Wen trifft es?
Für Patientinnen und Patienten kann das Warten oder das Wechseln auf ein anderes Medikament unangenehm sein. Besonders betroffen können Frauen und Männer sein, die mehrere Arzneimittel gleichzeitig einnehmen müssen. «Bei diesen Personen und auch bei Patientinnen und Patienten, die durch die Einnahme eines bestimmten Produkts wieder ein ganz normales Leben führen können, kann ein Wechsel eines Medikaments alles durcheinanderbringen», sagt Laura Huber. Bei einem Wechsel sei ein solches Leben sofort infrage gestellt.

Wer hilft?
Auf eine Nachfrage von Nationalrätin Bea Heim (SP) gab der Bund bereits 2016 einen Bericht heraus, der die Versorgungssicherheit der Schweiz mit Medikamenten beleuchtete und elf Empfehlungen nannte, wie die Si­tua­tion verbessert werden könnte: eine ausgebaute Lagerhaltung, die Beschleunigung von Importprozessen, ja sogar die Produktion von Arzneimitteln durch die Armeeapotheke. Fünf der Empfehlungen sind bisher umgesetzt worden, eine davon war die Einrichtung einer «Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel». Sie überwacht seither die Versorgungslage – und die Pflichtlager.

Wie für Getreide, Diesel oder Dünger gibt es in der Schweiz auch für Medikamente obligatorische Lagerbestände. Sie werden durch grosse Apotheken, Pharmafirmen oder Grossisten bewirtschaftet. Diese legen gegen Entschädigung des Bundes Lager von wichtigen Arzneimitteln an, die bei einem Versorgungsengpass freigegeben werden können. Bis zu vier Monate stellt der Bund so die Versorgung vor allem mit Antibiotika, Schmerzmitteln und Impfstoffen sicher. 2016, als die Melde­stelle erstmals ihren Bericht veröffentlichte, öffnete der Bund 17 Mal ein solches Pflichtlager. Seither müssen sie jedes Jahr öfters geleert werden. Im vergangenen Jahr gab es bereits 153 Zugriffe.

Ein Grund dafür: Die Massnahmen aus dem Bericht von 2016 greifen nicht. Dies schreibt der Bund in einer Si­tua­tionsanalyse vom vergangenen Jahr. Denn die Ursachen von Eng­pässen seien – wer hätte es gedacht – komplex und nicht nur auf die Schweiz beschränkt.

Seit vergangenem Winter haben die Versorgungsengpässe eine neue Stufe erreicht. Gewisse Substanzen für die Herstellung spezieller Rezepturen sind kaum mehr erhältlich. Der Bund hat deshalb im Februar eine Taskforce gegründet, die weitere, kurzfristige Massnahmen einleitete. Zum Beispiel die Teilabgabe von Medikamenten. Apothekerinnen und Apotheker dürfen Verpackungen nun öffnen und Medikamente genau auf die im Rezept vorgeschriebene Menge umpacken.

So entstehen weniger Reste, die ablaufen und entsorgt werden müssen. Aber: «Der Prozess ist aufwendig, ein Protokoll muss geführt werden, und viele Vorschriften müssen eingehalten werden», sagt Laura Huber. Zuweilen macht ihr der zunehmende administrative Aufwand zu schaffen. «Ich würde die Zeit lieber für die Beratung unserer Kundschaft nutzen.»

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