Sonja Werner verlässt die Aussicht nach 24 Jahren. Den Holzherd nutzt sie mittlerweile nicht mehr. Er dient heute als Anrichte.
Es war unser Sonntagsausflug par excellence: aufs Velo, über den Höhag, durch den Laubhau und von da nach Alten. Dann, zur Belohnung nach dem Radeln, einen von Sonja Werners 55 Coupes. Für Lokalpatrioten hatte sie den «Marthaler» (Baumnuss-, Caramel- und Marzipan-Sauerkirschglacé mit Mandelsplittern, Kokosraspeln und Rahm) im Angebot, älteren Damen war der «Tanti» (Blutorangensorbet mit Eierlikör) zu empfehlen, und Ambitionierte kämpften mit dem «Triathlon» (14 verschiedene Sorten Sorbets und Glacés mit frischen Früchten und Rahm). Der Schreibende bevorzugte in der Regel einen Klassiker: den Coupe Dänemark, Vanilleglacé mit geschmolzener Schokolade. Platz für dieses Dessert war immer – sogar nach der legendären Schlachtplatte an der Metzgete.
«Die grosse Coupe-Karte ist noch in Marthalen enstanden», erzählt Sonja Werner. Ihre Eltern wirteten damals in der «Stube», die Töchter halfen am Buffet, in der Küche oder im Service. «Jetzt machen wir mal etwas anderes», habe ihre ältere Schwester Elsbeth gesagt. Also kreierten die beiden Töchter gemeinsam die erste Coupe-Karte. 75 Kreationen war sie stark, in den Winterthurer Stadtbussen wurde das neuartige Angebot beworben. Die Mutter sei nicht unbedingt begeistert gewesen, doch der Vater habe gesagt, das komme schon gut. Er sollte recht behalten: Schon bald erhielt die Wirtschaft regen Zulauf von Ausflüglerinnen und Glacé-Liebhabern.
«Damals war das etwas Neues», sagt Sonja Werner. Der Nachtisch habe früher auf den Speisekarten eine untergeordnete Rolle gespielt. Ob es nur Zufall war, dass die umliegenden Restaurants bald ihre Dessertkarten etwas erweiterten, darüber möchte sich die Wirtin nicht auslassen.
Von Hand gehts besser
Mindestens genauso bekannt wie die Glacé-Karte war das Aussicht-Schnitzel: selbst geschnitten, gut gewürzt, dann in Senf, Mehl und zuletzt in Ei gewendet. So entstand die Delikatesse, die manch einer während des Verdauungsschlafs im Traum am liebsten gleich noch einmal verspeist hätte.
Nicht minder berühmt waren die handgemachten Pommes frites, wie sie der Schreibende seit der Schliessung der Oerlinger «Traube» in keinem anderen Weinländer Restaurant mehr gesehen hat: Dünn geschnitten und knusprig ergänzten sie die saftigen Schnitzel perfekt. Und wenn man schon am Schwärmen ist, darf die «Metzgete» nicht unerwähnt bleiben. Hergestellt wurden die Würste zwar vom Störmetzger Walter «Sepp» Ehrensberger, doch nicht minder wichtig sind die richtige Temperatur und Zeit im Wasser. Mit Rippchen, Speck, Zunge und zarten Leberli garnierte die Köchin ihre Schlachtplatten. Während der Wochen im Herbst und Frühjahr war die kleine Gaststube jeweils zum Bersten voll.
Die letzte «Metzgete» im Restaurant hat leider bereits stattgefunden. Ende August verlässt Sonja Werner das Lokal und zieht gemeinsam mit ihrer Familie zurück in ihre alte Heimat Marthalen. «Es tut schon weh, wenn man nach so langer Zeit aufhört», sagt die Wirtin. Sie habe heute noch Gäste, die hätten schon bei ihren Eltern am Stammtisch gesessen. Von Sentimentalitäten will sie aber wenig wissen. Wer noch Gutscheine habe, solle sie noch einlösen, das müsse unbedingt in die Zeitung. «Auszahlungen gibt es keine.» Und: Sie danke allen Gästen, die sie regelmässig besucht hätten. «Ohne euch hätte ich es nicht 24 Jahre gemacht.»
Nachwuchs fehlt an beiden Enden
Ein Restaurant wird das Haus an der Marthalerstrasse nicht bleiben, das haben die Besitzer der Pächterin bereits mitgeteilt. Sonja Werner versteht das. Einen «rechten» Wirt zu finden sei schwierig, die Zeit der Dorfbeizen neige sich dem Ende zu. «Wenn nicht gerade ‹Metzgete› ist, bin ich mit 60 oft die Jüngste im Restaurant», sagt sie. Die Jungen hätten heute ein viel grösseres Angebot – und mehr Geld zur Verfügung. Da sei die lokale Wirtschaft nicht mehr die erste Anlaufstelle.
Und die Altemer? «Na, die sind nicht begeistert», meint die Wirtin. Mit dem Restaurant falle auch ein Treffpunkt weg.
Der erste Gast an diesem Nachmittag, der bei ausnahmsweise sonnigem Wetter sein Bier geniesst, findet nur drei Worte: «Schade. Sehr schade.»
Die Aussicht trübt