Weinland

«Die Frauen hören wieder auf ihre Instinkte»

Sandra Sulser betreut als Hebamme seit über 12 Jahren Familien im ambulanten Wochenbett. Wie sich ihre Arbeit durch die Coronakrise verändert hat, erzählt sie in der Serie «Corona und ich – Wyländer erzählen aus ihrem Alltag».

von Bettina Schmid
15. April 2020

«Seit Beginn der Coronakrise ist in meinem Alltag als Hebamme vieles anders geworden. Es gibt einige Schwierigkeiten, aber auch neue Chancen. Aufgrund des totalen Besuchsverbots gehen viele Frauen direkt nach der Geburt oder in den ersten zwei Tagen nach Hause. Der Rundumservice vom Spital fällt weg. Zwar gehe ich bei den Familien ein- bis zweimal täglich vorbei und stehe telefonisch immer zur Verfügung. Dennoch sind die Eltern gezwungen, die Bedürfnisse ihrer Babys und auch die eigenen von Anfang an selbst zu erkennen und wahrzunehmen.

Welche Freude für mich, wenn ich am nächsten Tag wiederkomme und die Frau selbständig weitere Erkenntnisse über ihr Baby erlangt hat. Zum Beispiel, dass sie als Mutter ihr Kind wärmen kann und es so keine Temperaturschwierigkeiten hat. Oder dass sie es unabhängig von der Zeit stillen kann, wenn es weint. Stillen nach Bedarf, wie es so schön in der Literatur heisst, und doch wird es oft anders gemacht. Es werden Instinkte geweckt, von denen ich glaubte, dass sie in unserer modernen Welt verschwinden oder vergessen gehen. Ich bin erstaunt, wie viel Verantwortung die Paare übernehmen wollen und können.

Plötzlich bin ich als Hebamme kein «Dienstleistungspersonal» mehr. Sondern wir schauen gemeinsam, Mutter, Vater und ich, auf gleicher Höhe für das Wohl der kleinen Familie. Es ist wie ein gemeinsames Projekt und nicht ein Abschnitt, den es zu erledigen gilt. Ich habe mir das schon so lange gewünscht. Corona ist sozusagen eine Chance, das Elternwerden neu zu betrachten. Der begrüssenswerte Wandel im frühen Wochenbett stellt mich aber auch vor Herausforderungen. Früher habe ich zwei bis sechs ambulante und Kurzwochenbetten pro Jahr betreut, nun sind es um die sechs pro Monat. Mein Pensum hat sich entsprechend erhöht, zudem ist auch der allgemeine Arbeitsaufwand grösser geworden. Plötzlich übernehme ich zusätzliche Untersuchungen und Blutabnahmen oder überprüfe mehr Babys mit Gelbsucht. Die Proben müssen ins Labor gebracht werden, und ich brauche haufenweise neues Material. Gerade in den ersten drei Wochen war es sehr schwierig, an die benötigten Dinge zu gelangen.

Dazu kommen die strengen hygienischen Massnahmen. So besuche ich die Familien mit Maske und Schutzkleidung. Diese müssen nach jedem Besuch gewaschen werden. Sämtliches benutztes Material wird desinfiziert oder entsorgt. Das ist ein zeitlicher Mehraufwand von rund einer Viertelstunde pro Besuch. Und dies alles zu einer Zeit, wo ich als Familienfrau mit drei schulpflichtigen Kindern und entsprechendem Homeschooling auch zu
Hause mehr gebraucht werde.

«Solidarität überwältigt mich»

Eine Balance zwischen all den Ansprüchen zu finden, ist nicht ganz einfach. Sehr dankbar bin ich deshalb, dass meine Familie alles so gut mitträgt. Damit ich nicht krank werde und weiterarbeiten kann, verzichten unsere Kinder seit Beginn des Lockdowns auf jeglichen persönlichen Kontakt mit Freunden. Dies rührt mich sehr. Ebenso wie die vielen Unterstützungsangebote, welche mich in den letzten Tagen erreicht haben.

So habe ich aufgrund eines Facebook-Beitrags, in dem ich meinen Materialengpass erwähnte, zahlreiche Masken und Schutzanzüge erhalten, ja sogar eine zusätzliche Waage. Diese Hilfe und Solidarität überwältigen mich. Trotz allem bin ich froh, wenn in absehbarer Zeit wieder der normale Alltag einkehrt. Dann können meine Kinder endlich wieder ihre Kollegen treffen, und ich kann ohne Masken zu meinen Kundinnen und Kunden gehen.

Wir Hebammen versuchen alles, um die Familien in dieser aussergewöhnlichen und angsteinflössenden Zeit zu begleiten und das Elternsein doch noch schön werden zu lassen, denn es ist ein neuer, unschuldiger Mensch geboren worden. Ein Geschenk, das wir behüten und liebevoll empfangen, egal zu welcher Zeit.»

War dieser Artikel lesenswert?

Zur Startseite

Zeitung Online lesen Zum E-Paper

Folgen Sie uns