Weinland

Erinnerung an das Blutbad von 1823

Das Dörfchen Wildensbuch erlangte 1823 traurige Berühmtheit. Der sektiererische Zirkel um Margreth Peter gipfelte in einem grausamen Blutbad mit zwei Toten und einer «Kreuzigung». Elf Personen wurden verurteilt.

von Andelfinger Zeitung
10. März 2023

Eine Leerstelle zwischen Häusern ist der einzige Zeuge von den grausigen Ereignissen, die sich dort vor 200 Jahren zugetragen haben. Was vorgefallen ist am 15. März 1823, wurde im Dezember des gleichen Jahres im gedruckten Heft «Fortsetzung und Beschluss der getreuen und ausführlichen Erzählung der in Wildensbuch vorgegangenen Greuelscenen» festgehalten.

Nach der Bluttat vom 15. März 1823 mit zwei Toten mussten sich die elf beteiligten Personen vor dem «Malefizgericht des Standes Zürich» verantworten. Die verhängten Strafen reichten von sechs Monaten bis zu 16 Jahren Zuchthaus. Die Tragödie von Wildensbuch verbreitete sich wie ein Lauffeuer und wurde wie wild abgedruckt – heutzutage würde man von einem Bestseller sprechen. Und die Gerüchte schossen nur so ins Kraut. Auch der Voyeurismus der Leute wurde befriedigt. So kursierten Zeichnungen und Kupferstiche, auf denen die Teilnehmer der «Gelärm- und Blutscenen» in Wildensbuch nackt dargestellt waren. Sogar ein Bänkelsänger zog mit einem Guckkasten in der Schweiz umher und zeigte solche Darstellungen.

Im Zentrum des fanatischen religiösen Zirkels stand Margreth Peter (1794–1823), auch «heilige Gret» genannt. Mit ihrer jüngeren Schwester Elisabeth (1805–1823) kam sie am besagten 15. März nach einem dreitägigen Ritual samt Teufelsaustreibungen auf grauenvolle Art und Weise zu Tode. Ja, sie hatte sich gar kreuzigen lassen, war aber nicht auferstanden.

Beschwörung der Enthaltsamkeit
Margreth war ein lernbegieriges und ausgesprochen gescheites Kind. Dadurch hob sie sich schon früh von den anderen Kindern ab. Das ständige Lob soll sie zu einer eitlen und stolzen Person gemacht haben. Ihre religiösen Kenntnisse wurden vom Pfarrer gerühmt. Doch die Bekanntschaft mit den «sich so nennenden Erleuchteten» führte sie weg von der Landeskirche. Diese schwärmerischen Sektierer «verrückten durch Lobeserhebungen dem eitlen Mädchen den Kopf noch mehr». Insbesondere der fanatische und populäre Prediger Jakob Ganz (1791–1867) «machte sie noch mehr schwindeln». Denn von ihm hatte sie ihre zentrale Überzeugung – die «Verwerflichkeit des Ehestandes und der Verdienstlichkeit des Coelibats und der Enthaltsamkeit». Doch just an diesem Credo sollte Margreth später erbärmlich zerbrechen.

Mit 23 Jahren eine «Heilige»
Ende des Jahres 1817, mit 23 Jahren, galt sie bereits als Berühmtheit. So empfing sie nicht nur Besuch aus der Gegend, sondern aus dem ganzen Kanton Zürich sowie den Kantonen Schaffhausen und Thurgau. Sie unternahm Reisen an den Zürichsee, in die Gegend von Illnau sowie nach Basel, wo sie sich mit religiös «Erleuchteten» und «Erweckten» traf. In jener Zeit begannen ihre Bewunderer, sie eine Heilige zu nennen. Margreths Wirkung auf ihre Umgebung war so stark, dass selbst ihr Vater Johannes Peter ihr nicht zu widersprechen wagte. Die Personen um sie glaubten und befolgten «alles, was sie sprach und befahl».

Mit ein Grund für ihre Reisen war, dass ihre Zusammenkünfte und Andachtsstunden in Wildensbuch zunehmend von der Polizei erschwert wurden. Im Frühjahr 1821 reiste sie nach Basel, zusammen mit der 22-jährigen Ursula Kündig aus Langwiesen; Kündig sollte später die höchste Strafe von 16 Jahren Zuchthaus erhalten. Auf der Heimreise ging Margreth zu einem Bekannten, einem Arzt, und schickte Ursula nach Hause. Sie wollte ihm über ihre «physischen Umstände ohne Zeugen» berichten. Nach Aussage dieses Arztes habe sie sich nach allen äusserlichen Kennzeichen «nicht mehr in jungfräulichem Zustande befunden». Zudem habe sie ihm gesagt, dass ihre «Reinigung schon einige Male ausgeblieben» sei.

Der «Himmelswagen» kam nicht
In Wildensbuch verbreitete sich das Gerücht von der Schwangerschaft rasch. Ihr Ruf als «Heilige» war in Gefahr – Margreth, die die Enthaltsamkeit predigte. Als sie das väterliche Haus verliess, nährte dies das Gerücht noch mehr. Das ging so weit, dass der angebliche Ort der Niederkunft und der Aufenthaltsort des Neugeborenen herumgereicht wurden. Im Juni 1821 ging sie zu ihrem vertrauten Freund Jakob Morf nach Oberillnau, wohin ihr später ihre Schwester Elisabeth und Ursula Kündig folgten. Ein Jahr später prophezeite sie, sie werde zusammen mit Morf lebendig auf einem Wagen in den Himmel fahren. Sie nannte sogar den Tag ihrer «Himmelsfahrt» und lud dazu ihren Vater und ihre Geschwister per Brief ein. An jenem Tag kleideten sich Margreth und Morf frühmorgens feierlich, «harrten aber vergeblich bis an den späten Abend auf die Ankunft des Himmelswagens». Also begaben sie sich zu Bett. Margreth hatte freilich eine Erklärung für das Ausbleiben des Wagens: Sie seien zur Aufnahme in den Himmel noch nicht genug vorbereitet und würdig gewesen.

Kampf mit «fleischlichen Gelüsten»
Margreths Gastgeber Jakob Morf war verheiratet – doch sie befahl ihm, dass er in der Ehe enthaltsam sein müsse! «Allein dadurch konnte er doch seine natürlichen Anfechtungen nicht unterdrücken», heisst es im Büchlein von 1823 weiter. Eines Morgens um Ostern 1822 stand die Ehefrau Morfs früh auf, um Brot zu backen. Morf und Margreth blieben alleine in der Schlafkammer zurück. Da äusserte er «durch lautes Stöhnen seinen Kampf mit seinen fleischlichen Gelüsten». Sie ging zu seinem Bett, «und nun gewährte sie ihm das, was sie bisher für so sündlich erklärt hatte». Die Folgen dieser Ausschweifung versuchte sie – erneut – zu verbergen. Das Ausbleiben der Regelblutung gab sie als Beweis für die Wirkung ihrer Frömmigkeit aus. Sie sei nun «selbst ihrer Natur Meister geworden». Ihre Übelkeit und Krämpfe seien die Kämpfe mit dem Satan. Am 10. Januar 1823 gebar Margreth eine Tochter. Morf gestand seiner Frau den Fehltritt und bat sie um Vergebung. Dann die Idee: Seine Frau sollte sich als die Mutter des Neugeborenen ausgeben. Diese willigte letztlich ein unter der Bedingung, dass Margreth und ihre Schwester Elisabeth auf der Stelle abreisten. Einen Tag nach der Geburt kehrten die beiden im Schutz der Dämmerung nach Wildensbuch zurück. Ihre Ankunft am frühen Morgen wurde von den Nachbarn nicht bemerkt. Am gleichen Tag wurde das Neugeborene in Illnau als ehelich gezeugtes Kind der Morfs getauft.

Nach der Rückkehr verhielt sich Margreth unauffällig – wohl ahnte sie, dass das Oberamt Andelfingen nach ihr suchte. Wahrscheinlich verliess sie nicht mal mehr das väterliche Haus. Die Haustüre war stets verschlossen, bewacht von einem grossen Kettenhund. In dieser Zeit plante sie offenbar ihren inszenierten Abgang für die Karwoche 1823.

Tücher vor die Fenster gehängt
Am Mittwoch, 12. März 1823, vernahmen die Nachbarn des Hauses Peter ein von «Beilen, Äxten und Hämmern herrührendes Gepolter» sowie laute Aufforderungen zum Gebet, Schimpfworte und Wehklagen. Am nächsten Morgen versammelte sich eine Menge neugieriger Menschen aus Wildensbuch und Umgebung vor dem Haus. Wegen dem Kettenhund getraute sich aber niemand näher ans Haus. Auch waren Tücher vor die Fenster gehängt. Doch als ein Mauerstück in den Hof stürzte und ein Teil des Zimmerbodens einbrach, eilte der Oberamtmann Schweizer von Andelfingen herbei und verschaffte sich mit den Landjägern Zutritt zum Haus. Die sich in der Stube befindlichen Personen waren «zwar angekleidet, jedoch in seltsamen Stellungen», ausrufend, drängend und schlagend. Der Oberamtmann erhielt «keine vernünftige Antwort» für das seltsame Benehmen; von «Eingebungen» war die Rede. Die nicht dem Hause Peter angehörenden Personen wurden nach Hause geschickt. Den verbleibenden wurde ein «ruhiges Verhalten anbefohlen». Der Vater Johannes Peter wurde aufgefordert, für das Erscheinen der Töchter Margreth und Elisabeth vor dem Oberamt zu sorgen.

«Zur Rettung vieler Tausend Seelen»
Zwei Tage später, am 15. März 1823, versammelte Margreth die Personen erneut und erklärte, dass der Tag gekommen sei, an dem zur Rettung vieler Tausend Seelen Blut fliessen müsse. Sie befahl allen Anwesenden, sich selbst mit den Fäusten auf die Brust zu schlagen. Danach schlug sie mit einem Keil aus Eisen drei Personen blutig. Während sie ihrem Bruder Kaspar auf Kopf und Brust schlug, soll sie geschrien haben: «Sehet, wie der Teufel seine Hörner aus dem Kopfe des Kaspars hervordrängen will!» Danach schlug sie mit Hilfe der anderen ihre Schwester Elisabeth zu Tode. Margreth blutete selber schon so stark, «dass sie das Blut in einem Becken auffassen konnte». Auf ihr Geheiss verpasste Ursula Kündig ihr mit einem Rasiermesser einen Kreuzschnitt über der Stirne und einen Kreisschnitt um den Hals. Dann liess sie sich durch Hände und Füsse auf Holzstücke nageln. Auch durch den Kopf und die Brust wurden ihr mehrere Nägel geschlagen. Kündig versuchte vergeblich, ihr ein spitziges Messer durch den Schädel zu rammen – also zerschmetterte sie diesen mit Hammer und Keil. Als nach dem dritten Tag die prophezeite Auferstehung der zwei Toten ausblieb, fand der Wahnsinn ein Ende. Die anschliessende Obduktion stellte bei Margreth auch «unzweideutige Spuren einer frühern Schwangerschaft und Niederkunft» fest.

Im Urteil wurde verfügt, dass das Wohnhaus der Peters in Wildensbuch unter Aufsicht des Oberamts Andelfingen «bis auf den Grund abgetragen» und die Fundamente «verschüttet und dem Boden gleich gemacht» werden sollten. Und an der Stelle dürfe «niemals mehr ein Wohnhaus aufgeführt werden». Wohl nicht zuletzt, um einen Wallfahrtsort zu verhindern.

Das abgerissene Haus soll sich unmittelbar bei der «Klosterscheune» befunden haben. Laut dem zuständigen Grundbuchamt Feuerthalen steht aus Sicht der Zonenordnung einem Bau in diesem Bereich nichts entgegen. Entweder sei das 1823 verfügte Bauverbot gar nie ins Grundbuch eingetragen oder aber später wieder gelöscht worden. Eines aber bleibt – eine «Erinnerungslücke».

Dieser Beitrag von Markus Brupbacher ist in ähnlicher Form am 24.2.2012 in der «Andelfinger Zeitung» erschienen.

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