Weinland

Fahren an Silvester – freiwillig und für andere

Sie sind ein seltsamer Verein: An Weihnachten sitzen sie nicht vor dem Christbaum, an Silvester stossen sie zwar an – aber nicht mit Champagner. Die Mitglieder von «Nez Rouge» sind dann unterwegs. Für andere, die einen gemütlichen Abend verbringen wollen.

von Interview: Tizian Schöni
01. Dezember 2023

Die Sektion Zürich von «Nez Rouge», zu der Judith und Theo Wälti aus dem Weinland gehören, nimmt ab dem 30. November den Betrieb auf. Bis und mit der Silvesternacht werden die Teams unterwegs sein. Dabei chauffieren sie nicht nur die Fahrgäste, sondern auch deren Auto sicher nach Hause. Seit fünfzehn Jahren sind Judith und Theo Wälti aus Henggart mit dabei – an Silvester melden sie sich regelmässig zum Freiwilligendienst.

Judith und Theo, in der Neujahrsnacht seid ihr nicht mit Familie oder Freunden zusammen, sondern mit euren Fahrgästen im Auto. Warum?
Judith: Als unsere Kinder noch jünger waren, haben wir Silvester natürlich gemeinsam verbracht. Irgendwann gingen sie am 31. Dezember in den Ausgang, und wir haben uns gefragt: «Was machen wir jetzt?» So sind wir auf «Nez Rouge» gekommen.
Theo: Weihnachten verbringen wir immer mit der Familie. Doch die weiss auch: An Silvester muss man uns nicht anrufen. Dann sind wir unterwegs.

Aber wäre es nicht gemütlicher, zusammen zu feiern – und auf das neue Jahr anzustossen?
Theo: «Nez Rouge» ist eine super Sache. Man tut etwas Sinnvolles, die Gäste sind immer freundlich und sehr, sehr dankbar. In all den Jahren hatten wir nie auch nur ein negatives Erlebnis mit unseren «Kunden». Zudem bin ich fast seit 40 Jahren Chauffeur – ich gehöre auf die Strasse.
Judith: Und anstossen, das tun wir mit den Teams, die sich am Silvesterabend alle in der Zentrale auf dem Flugplatz DĂĽbendorf besammeln. Mit etwas Alkoholfreiem natĂĽrlich.
Theo: Man hat das Glas noch nicht ausgetrunken, und schon kommen die ersten Aufträge herein. Silvester ist für «Nez Rouge» die Nacht der Nächte.
Judith: Wir erhalten eine SMS mit Ort, Anzahl Fahrgästen und Informationen zu deren Auto. Sobald man einmal unterwegs ist, packt es einen richtig.

Wer sind eure Fahrgäste denn so?
Judith: Wir befördern nur Leute, die mit dem Auto unterwegs gewesen sind und sich das Fahren nicht mehr zu­trauen. Das muss nicht unbedingt wegen des Alkoholkonsums sein. Auch Ermüdung oder ein ungutes Gefühl können reichen, damit man in der Nacht nicht mehr ins Auto steigen will. Ein Taxiservice sind wir aber nicht.
Theo: Genau, solche Dienste wollen wir nicht konkurrenzieren. Ăśbrigens hatten wir noch nie einen Kunden, der stockhagelvoll war. Die Leute sind vernĂĽnftig.

Und wenn ihr bei einem Gast angekommen seid?
Judith: Erst suchen wir uns einmal (lacht). Als Kunde ist es auf jeden Fall von Vorteil, das Handy eingeschaltet zu haben. Von der Zentrale erhalten wir zudem die Autonummer, so können wir das Fahrzeug suchen. Wir machen dann ein Foto von etwaigen Schäden am Fahrzeug und prüfen, ob es betriebssicher ist. Denn am Ende müssen wir es ja nach Hause fahren.
Theo: Die Fahrgäste sitzen dann – meist gemeinsam mit mir – in ihrem eigenen Auto. Judith fährt mit unserem Wagen hinterher.
Judith: Wenn die Fahrgäste nur Frauen sind, fahre ich mit ihnen. Sind es nur Männer, fährt Theo – solche und weitere Verhaltensregeln erhal­-ten wir im Briefing am Anfang des Abends.

Wie weit kommt ihr bei den Fahrten herum?
Theo: Wir von der Sektion Zürich fahren ab und zu auch in die angrenzenden Kantone, aber die meisten Leute chauffieren wir in der Region herum. Einen besonders weiten Weg hatten wir während der Pandemie. Damals fuhren nur wenige Sektionen, wir holten also einen Kunden im Säuliamt ab und führten ihn bis ins Bernbiet – pro Weg waren das anderthalb Stunden!
Judith: Das war eine abenteuerliche Fahrt. In dieser Nacht lag stockdicker Nebel, ich hatte keine Ahnung, was links und rechts der Strasse war. Dann verlor ich auch noch Theo und musste mit dem Navigationssystem hinterherfahren.

Bestimmt ist das FĂĽhren fremder Fahrzeuge nicht immer einfach.

Theo: Einmal hatten wir einen Garagisten als Kunden, der fuhr einen auf 450 PS hochgerĂĽsteten Ford Focus. Da war ich schon etwas stolz, als er mir am Ortsausgang zu verstehen gab, dass ich das Auto im Griff habe. Am Ende der Fahrt bot er mir sogar an, die beiden anderen Fahrzeuge, die er privat besass, einmal testweise zu fahren.
Judith: Es ist eine tolle Erfahrung, wenn die Kunden uns ihren Wagen anvertrauen – und ein enormer Vertrauensbeweis.
Theo: Der allererste Auftrag, den wir für «Nez Rouge» fuhren, war für einen Kunden mit einem Audi A7. Neben uns in der Zentrale sass ein junger Typ, der schon den ganzen Abend geschwärmt hatte, was für tolle Autos er das Jahr zuvor hatte fahren dürfen. Kurz darauf erhielt er einen eigenen Auftrag – mit einem Fiat Panda.
Judith: Und als ich letztes Jahr mit unserer Tochter Tamara unterwegs war, konnte sie direkt einen Tesla fahren. Danach sagte sie mir, sie könne jetzt begreifen, weshalb es uns so «den Ärmel reingezogen» habe.

Das ist «Nez Rouge»

Das «Nez Rouge»-Konzept stammt ursprünglich aus Kanada, 1990 wurde die erste Schweizer Aktion im Kanton Jura durchgeführt. Mittlerweile gibt es in der Schweiz 22 Sektionen. In Zürich sind die Vereinsmitglieder ab dem 30. November von Donnerstag bis Samstag, ab dem 20. Dezember dann jeden Abend bis und mit Silvester unterwegs. Fahrgäste bezahlen keine Gebühr, spenden aber für die Vereinskasse.

Ausserhalb der Weihnachtszeit fährt der Verein auch an Anlässen, zum Beispiel an der Abendunterhaltung des Turnvereins Buch am Irchel im kommenden Januar. Gegen eine Spendenvereinbarung kann dann eine Anzahl Teams gebucht werden. «Nez Rouge» ist immer auf der Suche nach Fahrerinnen und Fahrern. (tz)

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