Weinland

Geschichte aus der Tiefe

Sie ist die tiefste und anspruchsvollste der insgesamt elf Quartärbohrungen der Nagra. Chef-Bohrmeister Luka Seslak gibt Einblick in die ersten 60 der insgesamt 320 Meter.

von Evelyne Haymoz
29. September 2020

Ende Thurstrasse ist der krähende Hahn vom naheliegenden Bauernhof nicht mehr zu hören. Dort, nahe dem Flussufer, dröhnt und rattert nämlich das Bohrgerät, das sich im Auftrag der Nagra seit drei Wochen in den Untergrund hämmert («AZ» vom 25.8.2020). Zwei junge Arbeiter sind an der Maschine beschäftigt. Ein dritter Mann, Luka Seslak, ist als Drilling Supervisor für den Bohrplatz, die Qualität der Bohrkerne, das Verfüllen des Bohrlochs am Ende und für die Sicherheit zuständig. Bevor er sich interviewen lässt, rüstet er die Journalistin mit Helm und Leuchtweste aus.

«Wir kommen gut voran und sind jetzt bei 60 Metern», erklärt der Chef-Bohrmeister. Vergangene Woche knackten sie die 50-Meter-Marke. Bis Ende Jahr soll eine Tiefe von 320 Metern und damit die Gletscherrinne (siehe Kasten) erreicht sein. Das Ziel der Nagra ist es, zu verstehen, wie die Gletscher sich früher bewegt haben, um zu prognostizieren, wie ihre Bewegungen in Zukunft aussehen könnten. «Mein persönliches Ziel ist es, Bohrkerne von hoher Qualität aus dem Boden zu ziehen», sagt Luka Seslak. Er ist zufrieden, bisher hätten sie kaum Verluste zu beklagen.

Jedes Loch hat seine Tücken
Der 51-Jährige, seit drei Jahren bei der Nagra, hat nicht nur das Sagen auf dem Platz, er weiss auch viel zu erzählen. Kein Wunder, schliesslich sammelte er internationale Erfahrungen und wirkte beim Gotthard Basis Tunnel als Bohrmeister. Anfang 2016 war er in China an der Rettung von vier Arbeitern beteiligt, die nach dem Einsturz einer Gipsmine 36 Tage lang im Untergrund ausharren mussten.

«Jedes Loch und jeder Platz hat seine Tücken», sagt er. Zu den bisher bekannten Herausforderungen in Dätwil gehören das potenzielle Thurhochwasser und Wasser, das aus dem Inneren aufzusteigen droht. Quartärbohrungen seien per se anspruchsvoll, da das zu gewinnende Lockergestein aus Kies und Sand besteht und – wie es der Name andeutet – locker und bröselig ist.

Um zu einem Bohrkern zu gelangen, wird ein oranges Plastikrohr, der Liner, ins Kernrohr geschoben und dieses anschliessend hydraulisch – genau einen Meter weit – in den Untergrund gehämmert. Der so erhaltene Kern wird an die Oberfläche geholt, gewogen und mit dem Namen der Bohrung, der Tiefenangabe sowie mit «oben» und «unten» beziehungsweise «Kopf» und «Krone» beschriftet. Ein Bohrkern ist ein Meter lang, etwa 10 Zentimeter breit und, je nach Zusammensetzung des Materials, um die 20 Kilogramm schwer. Da Luka Seslak nicht in die Probe hineinschauen kann, um zu überprüfen, ob sie vollständig ist, behilft er sich mit einer Waage.

Meter für Meter
In der Zwischenzeit wurde am Bohrloch, das einen Durchmesser von 35 Zentimetern aufweist, weiter hantiert. Um es zu stabilisieren, wird jeweils ein metallenes Rohrelement eingedreht. Und dann wird weitergebohrt: Meter für Meter.

Die fertigen Bohrkerne bleiben danach nicht lange in Dätwil, denn zweimal in der Woche fährt ein Assistent des Geologischen Instituts der Universität Bern vor und nimmt sie mit. Zum Zeitpunkt des Besuchs waren es neun Kerne, die er ins Labor transportierte. Dort werden sie längs aufgeschnitten und analysiert. Die ersten Meter bestanden die Proben aus Humus und Erde, danach veränderte sich das Material, Sand und Silte kamen dazu, dann Ton. «Das Bohren im weichen Sand geht gut. Je mehr Kies und grössere Steine vorkommen, desto schwieriger wird es», sagt der Chef-Bohrmeister.

Für das derzeit eingesetzte Bohrgerät ist bei einer Tiefe von 100 Metern Schluss. Voraussichtlich Mitte Oktober übernimmt ein grösseres Gerät aus Österreich, mit welchem bis zur Oberkante des Felses in 320 Metern Tiefe vorgedrungen wird. Um das Bohrloch dann zu stabilisieren, könnte ein 24-Stunden-Betrieb nötig sein, entschieden sei noch nichts.

Kurz und knapp: Quartärbohrung

Wie tief muss ein Lager für radioaktive Abfälle liegen, um nicht durch zukünftige Gletscher freigelegt zu werden? Diese Frage führte die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) zu den Quartärbohrungen.

Das Quartär dauert bis heute an und ist der jüngste geologische Zeitabschnitt. Es begann vor etwa 2,6 Millionen Jahren und war geprägt von Eiszeiten: Gletscher stiessen vor und schnitten ins darunterliegende und viel ältere Gestein eine Rinne, in die später Lockergesteine wie Sand und Kies abgelagert wurden. Die Nagra lässt bis ins Zentrum der Rinne bohren. So tief, bis sie auf den darunterliegenden Felsen, die Molasse, trifft.

Die gewonnenen Bohrkerne sollen Aufschluss geben über die Tiefe, die Füllung und das Mindestalter der Rinne. Damit möchte die Nagra ihre Modelle über die vergangenen Gletscherbewegungen überprüfen, um daraus Prognosen für zukünftige Gletschervorstösse abzuleiten. Die Bohrung in Dätwil ist die letzte von insgesamt elf Quartärbohrungen, die die Nagra seit 2018 durchführt. Gebohrt wurde unter anderem in Andelfingen, Kleinandelfingen und Rudolfingen. (hay)

War dieser Artikel lesenswert?

Zur Startseite

Zeitung Online lesen Zum E-Paper

Folgen Sie uns