Weinland

Idylle unter dem Bahngleis

Von der Thur bis zur Thurtalstrasse führt ein Weg durch das Hostbachtobel und zum Orweiher. Ein abwechslungsreicher Spaziergang, bei dem geologische Naturschauspiele erlebt werden können – zum Nachwandern empfohlen.

von Bettina Schmid
10. September 2019

Auf einem kleinen Kiesplatz am Waldrand parkieren wir das Auto, kurz nachdem wir auf der Neugutstrasse unter der Eisenbahnbrücke durchgefahren sind. Neben uns plätschert der Hostbach, weiter unten glitzert die Thur. Und unmittelbar hier, direkt an der Strasse, beobachten wir ein geologisches Ereignis: die Bildung einer Tuffsteinzunge. Ein kleines Bächlein vereint sich auf einer Anhöhe mit Quellwasser, das aus dem mit Farnen bedeckten Boden austritt, und sucht seinen Weg über Moos und Ästlein in den Hostbach. Dabei wird Tuffstein gebildet, ein noch junges und poröses Gestein. Über die Jahrzehnte hat sich eine richtige Nase gebildet. Über diesen Gupf kommt das Wasser nicht mehr hin­aus und sucht sich deshalb rechts und links davon neue Wege, bis es, in mehrere Rinnsale verzweigt, im grösseren Bachbett ankommt und sich wenig später in die Thur ergiesst.

Was sich hier in Miniatur erleben lässt, hat sich vor rund 10'000 Jahren, nach dem Ende der letzten Eiszeit, in grösserem Stil beim Mülibach abgespielt. Der Bach floss dazumal auf einem gesamthaft über 70 Meter hohen Gefälle von der Quelle im Ursprung bis in die Thur. Der Kalk löste sich aus dem Wasser und lagerte sich auf seinem Weg über Moos, Laub und anderes Material ab. So bildete sich Kalktuff, der sich im Laufe der Jahrtausende zu einer mächtigen Tuffsteinzunge formte. Und auf dieser entstand dann rund um den Mülibach der Dorfkern von Andelfingen. Auch die verschiedenen Verzweigungen des Bachs, welche die Gemeinde mit ihren sechs Mühlen stark prägten, sind dank dieser Tuffsteinzunge entstanden. Denn das Wasser kam, genau wie heutzutage beim Hostbach, irgendwann nicht mehr über die immer grösser werdende Tuffsteinnase hinaus und suchte sich einen neuen Weg – der heutige Wildbach, der westlich um den Dorfkern herumführt, war geboren.

Verstecktes Paradies
Wir setzen unseren Weg fort und verlassen das sich im Entstehen befindende Tuffstein-Plateau en miniature. Dem Hostbach entlang, der übrigens künstlich neben die Bahnlinie verlegt wurde, wandern wir hinauf und beobachten das munter sprudelnde Gewässer, das über beeindruckende Sinterbecken hinab­fliesst. Auch an heissen Sommertagen ist es hier angenehm kühl, und nach gut 30 Minuten Gehzeit erreichen wir den Orweiher. Das idyllisch gelegene Becken ist ein Naturschutzgebiet und beherbergt viele Tier- und Pflanzenarten. Frösche hüpfen bei unserer Ankunft ins Wasser, und von mehreren Seiten stossen kleine Bäche dazu. Direkt oberhalb des Weihers verläuft die Eisenbahnlinie, und mehrmals fährt ein Zug vorbei. Von dort oben ist kaum zu erahnen, was für ein verstecktes Naturparadies sich nur einige Meter unter dem Bahngleis befindet. Eine Treppe führt hinauf zum Werkhof Fuchsenhölzli.

Nach ein paar Hundert Metern der Thurtalstrasse entlang zweigen wir ab in die Mühlebergstrasse. Vom Mühleberg aus geniessen wir die Aussicht über Andelfingen mit dem eindrücklichen Kirchturm. Dieser wurde, wie viele Häuser im Dorfkern, aus Tuffstein gebaut. Der Tuffstein im Untergrund sorgt dafür, dass viele alte Andelfinger Häuser über einen wunderbaren Gewölbekeller verfügen. Die Grillstelle lädt zur Mittagspause ein, und während die Würste über dem Feuer braten, vergnügen sich die Kinder auf dem weitläufigen Spielplatz und dem Waldparcours mit dem Barfusspfad und den Kletterelementen.

Rundgang im Schlosstobel
Frisch gestärkt wandern wir vom Mühleberg hinunter in den alten Dorfkern von Andelfingen. Vom Mülibach ist hier nicht viel zu sehen, er wurde um 1970 abgesenkt und verläuft grösstenteils unterirdisch unter dem Marktplatz hindurch. Beim Schloss Andelfingen fällt uns ein Brunnen mit einem Wasserrad auf, und die Kinder beobachten gespannt, wie es sich dreht. Genau dieser Brunnen sorgt einige Meter unter uns, im Schlosstobel, für ein weiteres geologisches Ereignis. Durch das stark kalkhaltige Wasser, das vom Brunnen in den Mülibach abgeleitet wird, bildete sich eine mächtige Tuffsteinnase. Nach wie vor wächst sie pro Jahr um einen Zentimeter – im Vergleich zu den in Tropfsteinhöhlen vorkommenden Stalagmiten und Stalaktiten, weniger als einen Millimeter pro Jahr wachsen, eine beachtliche Zahl.

Allmählich schliesst sich unser Kreis, und wir spazieren nach einem kurzen Rundgang durchs schattige Schloss­tobel wieder nach unten zur Neugut­strasse, vorbei an der Haldenmühle, welche als einziger Betrieb seiner Art im Weinland die Wasserkraft immer noch professionell nutzt und mithilfe des Mülibachs täglich Korn mahlt. Entlang der Thur führt uns der Weg zurück zur Eisenbahnbrücke, wo wir einen letzten Halt bei der Kiesbank machen. Mit vielen Eindrücken von neu entdeckten Naturoasen und Erkenntnissen rund um die geologische Besonderheit von Andelfingen machen wir uns auf den Heimweg. Vielleicht ist dieser Spaziergang entlang immer noch wachsender Geschichte ja auch etwas für Sie?

Klicken Sie auf die Zahlen, um mehr über die einzelnen Stationen zu erfahren.

 

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