Weinland

«Keine Feriengäste, sondern Menschen mit Geschichten»

In Stammheim hat Hanna Maurer Kontakt zu mehreren Flüchtlingen, die bei Privaten untergekommen sind. Sie erzählt, wie der Schulunterricht geregelt und die Hilfe organisiert wird.

von Jasmine Beetschen
12. April 2022

Im obersten Stock der Sekundarschule Stammheim hört man eifriges Tippen und angeregtes Gemurmel. Die Schülerinnen und Schüler sitzen mit Kopfhörern an ihren Laptops, lösen gemeinsam Aufgaben, die der Lehrer über ein Onlineprogramm aufgibt, oder lauschen seinen Ausführungen. Ein Bild, das man während Corona-Zeiten allzu gut kannte, als die Schulen vorübergehend geschlossen und die Kinder im Fernunterricht waren.

In diesem Fall sind es aber keine Schweizer Schulkinder, sondern geflüchtete, die mit ihrer Familie, zumeist nur mit dem weiblichen Teil davon, aus der Ukraine in die Schweiz gekommen sind. Über verschiedene Organisationen und Koordinationsstellen wurden einige davon nach Stammheim vermittelt, wo – neben vielen weiteren Freiwilligen – auch Hanna Maurer von der Chrischona mithilft. Gegen 30 Flüchtlinge haben dadurch eine private Unterkunft in Stammheim gefunden.

Online-Unterricht dank Corona
Auch bei der Eingliederung ins Schulwesen unterstützt sie ihre Schützlinge: Sie, die bereits seit Jahrzehnten mit der Ukraine verbunden ist und auch die Sprache beherrscht. «Während Corona waren die Schulen in der Ukraine sehr lange und oft zu. Aus diesem Grund wurde dort schon früh ein Online-Unterricht für alle Klassenstufen eingeführt», erklärt sie.

Das sei ein Vorteil, so können die Kinder und Jugendlichen, die nun hier im Stammer Schulzimmer sitzen, von ihren eigenen Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet werden. Einige sind noch in der Ukraine, andere auch anderswo in Europa. Neben ihrem regulären Schulstoff erhalten die Flüchtlinge zusätzlich Deutschunterricht. Überall im Zimmer finden sich Beschriftungen auf Deutsch, damit sie sich einfacher einen Grundwortschatz aufbauen können.

Das Ziel sei, die Kinder «step by step» in den Regelunterricht einzugliedern. «Im Sommer sollen sie für Fä­-cher, die nicht zwingend sprachbasiert sind – wie zum Beispiel Zeichnen oder Turnen – in reguläre Klassen kommen», sagt Hanna Maurer.

Allgemein sind die Schülerinnen und Schüler bestrebt, den Anschluss an ihren eigenen Schulbetrieb nicht zu verlieren. «In der Ukraine herrscht ein anderes System als bei uns, daher ist es für die Kinder wichtig, nichts zu verpas­sen – trotz der schwierigen Umstände», so Hanna Maurer. Denn die Flüchtlinge, die in Stammheim untergekommen sind, möchten alle wieder in die Heimat zurück, sobald es die Lage zulässt.

Privat, aber mit Hilfe von Behörden
Bis dahin sind sie im Dorf und in der Umgebung untergebracht. «Die Unterkünfte sind privat und werden über verschiedene Organisationen oder private Kontakte organisiert, wie in unserem Fall», erzählt Hanna Maurer. Sie seien zum Beispiel bei «kirchen-helfen.ch» angemeldet und stünden in Kontakt mit «Licht im Osten». Obwohl sie die Hilfe privat organisierten, seien die Behörden bei allen anstehenden Fragen sehr hilfsbereit. «Wir dürfen uns immer wieder an sie wenden. Das betrifft die Schule, aber auch administrative Angelegenheiten.» Kontaktpersonen seien dabei die Gemeinderätinnen, Schulleiter oder auch die Gemeinderatskanzlei.

Menschen mit Geschichten
«Eine Unterkunft zur Verfügung stellen sollte man nur, wenn man sich dabei auch wohlfühlt», erklärt Hanna Maurer. «Es ist wichtig, dass man das eigene Leben normal weiterführt, es darf keine zusätzliche Belastung entstehen.» Trotzdem müsse man sich als potenzieller Gastgeber bewusst sein, dass man nicht Feriengäste aufnehme, sondern Menschen mit einer Geschichte und einer, wenn auch nur leicht, unterschiedlichen Kultur. Und dies auf unbestimmte Zeit.

«Man sollte diesen Fakt nicht unterschätzen, sie haben einiges erlebt, und dieses Paket tragen sie mit sich», erklärt Hanna Maurer. Die Stammheimer Flüchtlinge beispielsweise seien aus der Ostukraine (Saporoschje), aus Kiew sowie der Westukraine (Gebiet Chmelnizki) und über Rumänien, Ungarn, Österreich und Deutschland ins Stammertal gekommen.

Während mehreren Tagen war die Gruppe, die sich mehrheitlich an der rumänischen Grenze kennengelernt und zusammengeschlossen hatte, in kleinen Autos unterwegs. Männer und Söhne mussten sie mehrheitlich zurücklassen, da diese für Transportfahrten und weitere Einsätze in der Ukraine eingesetzt werden. «Das ist sehr belastend für uns, die nun hier in der Schweiz leben», erzählt Tatjana, eine der Frauen, die bei der Chrischona untergekommen ist. Das Heimweh sei, trotz der gefährlichen Lage im Land, immer wieder da. Es helfe, dass in den Gemeinden Begegnungsorte geschaffen wurden, um sich untereinander austauschen zu können.

Austausch ist das Wichtigste
Gemeinsame Aktivitäten sind in Stammheim zum Beispiel im Gebäude der Chrischona möglich. «Wir bieten damit einen Ort, an dem sie zusammenkommen können: Gemeinsames Kochen, Ausflüge sowie weitere Unternehmungen stehen auf dem Programm.» Ausserdem diene der Ort auch als Anlauf- und Koordinationsstelle für Gastgeberinnen und Gastgeber. «Eine Unterkunft beruht auf Vertrauen zwischen Menschen, die sich und ihre Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen bis vor Kurzem nicht kannten. Das braucht Offenheit und Flexibilität», so Hanna Maurer. Dabei Unterstützung zu erhalten, sei wichtig.

Ankunft in der Gemeinde: und dann?

Die Wege für Flüchtlinge in die Schweiz und ins Weinland sind sehr unterschiedlich. Einige kommen über kantonale Durchgangszentren, andere über Bekannte, Facebookgruppen, Kirchen oder andere Hilfsorganisationen. Caroline Poltéra-Brunner von der Asylkoordination Andelfingen erklärt im Interview, wie das Prozedere genau abläuft.

Wie viele Flüchtlinge sind aktuell im Zürcher Weinland untergekommen?
Caroline Poltéra-Brunner: Die genaue Zahl kann ich Ihnen nicht nennen, da viele Personen privat untergebracht sind und noch nicht von der Asylkoordination unterstützt werden. Wir gehen aber von über 150 Personen aus.

Wie wird das Ganze koordiniert?
Die Nothilfe läuft über die Gemeinden, sobald die Geflüchteten durch das kantonale Sozialamt der Asylfürsorge zugewiesen wurden. Danach erhalten sie Unterstützung durch die Asylkoordination.

Wie läuft der Prozess ab?
Die Person registriert sich online oder im BAZ für den Status S. Dieser beinhaltet neben dem Recht auf Familiennachzug die Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Schulpflichtige Kinder werden in den Unterricht integriert.

Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?
Grundsätzlich ist die Hilfsbereitschaft sehr erfreulich und auch notwendig. Die Koordination hingegen ist schwierig, je mehr Involvierte beteiligt sind. (jbe)

Flüchtlinge im Pfarrhaus, beim Holzlabor in Thalheim oder im Deutschunterricht in der EMK Wyland

Region: Die Hilfsbereitschaft gegenüber Ukraine-Flüchtlingen ist gross. Verschiedene Gemeinden im Weinland informieren über Angebote und die aktuelle Situation im eigenen Dorf.

Der Bund wird den Kantonen auch in den nächsten Wochen eine hohe Zahl von Personen mit Schutzstatus S zuweisen (siehe Kasten oben). Er verteilt asylsuchende Personen nach einem gesetzlich definierten Schlüssel. Gemäss diesem hat der Kanton Zürich entsprechend seiner Bevölkerungszahl 17,9 Prozent der Asylsuchenden zu übernehmen. Der Verteilschlüssel wird auch für Personen mit Schutzstatus S angewendet.

Um die Unterbringung der Schutzbedürftigen aus der Ukraine weiterhin gewährleisten zu können, hat die dafür zuständige Sicherheitsdirektion entschieden, die Aufnahmequote per 19. April 2022 auf 0,9 Prozent zu erhöhen (Statt fünf neu neun Personen auf 1000 Einwohnende).

Die Gemeinden sind damit gefordert. Diverse Gruppen und zahlreiche Private bieten Unterkünfte oder anderweitige Unterstützung an. In den Mitteilungsblättern oder über andere Kommunikationskanäle informieren sie über die aktuelle Lage.

So hat beispielsweise die Gemeinde Benken am 1. April auf ihrer Website bekannt gegeben, dass sie sich kurzerhand zusammen mit der Reformierten Kirche Weinland Mitte sowie der Primarschulgemeinde für die Aufnahme von zwölf Personen aus der Ukraine entschieden hätte. Diese seien am 29. März und 1. April angekommen.

Die Unterbringung erfolgt im ehemaligen Pfarrhaus der Reformierten Kirche Weinland Mitte. Die Betreuung der Ukrainerinnen und Ukrainer ist durch viele Helferinnen und Helfer der Gemeinde, der Kirche sowie der Primarschulgemeinde sichergestellt. Und auch die Evangelisch-methodistische Kirche Wyland in Flaach bietet ihre Hilfe an: 50 bis 60 Ukrainerinnen und Ukrainer erhalten dort dreimal wöchentlich Deutschunterricht.

In Thalheim hat der Verein Holzlabor eine Gruppe aufgenommen, wie er in einem Bericht in der «Dorfposcht» vom März schreibt. Und in Rutschwil (Dägerlen) und Dachsen beispielsweise besuchen die ersten Kinder den offiziellen Schul- und Kindergarten­unterricht in der Gemeinde.

Die aufgezählten Gemeinden sind nur einige wenige Beispiele aus dem Weinland, zahlreiche weitere bieten ihre Hilfe an und unterstützen die Flüchtlinge auf unterschiedliche Weise. Wichtig ist die schnellstmögliche Registrierung der geflüchteten Personen. Um weitere Informationen zu erhalten, können sich Privatpersonen beim Sozialamt ihrer Gemeinde oder direkt bei der dafür geschaffenen Anlaufstelle melden. (jbe)

Die Ukraine-Anlaufstelle ist erreichbar über ukraine@sa.zh.ch und Telefon 043 259 24 41 (Montag bis Freitag, jeweils von 8.30 bis 11.30 Uhr und von 13.30 bis 16.30 Uhr).

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