Sehen und gesehen werden

Region - Morgen ist der «Tag des weissen Stocks». Blindenverbände nutzen die Gelegenheit, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Für Gesprächsstoff sorgt eine vorgeschlagene Energiesparmassnahme des Bundes. Betroffene erzählen.

Jasmine Beetschen
Lesezeit: 4 min

Der 15. Oktober steht ganz im Zeichen des «weissen Stocks», umgangssprachlich «Blindenstock» genannt. An diesem internationalen Welttag machen Organisationen wie der Schweizerische Blindenbund oder der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) mit verschiedenen Aktionen auf die Bedürfnisse und Herausforderungen von den in der Schweiz rund 370'000 Betroffenen aufmerksam. Das Ziel: mehr Sensibilisierung für deren tägliche Herausforderungen zu schaffen.

Darum geht es auch in einer kürzlich erschienenen Mitteilung des SBV. Darin wehrt sich der Verband gegen die Empfehlung des Bundes, im Rahmen der Ener­gie­sparmassnahmen die Stras­senbeleuchtung zu reduzieren oder gar abzuschalten. «Die Verringerung oder gar das völlige Ausschalten der öffentlichen Beleuchtung hätte fatale Folgen für Menschen mit Sehbeeinträchtigung in Bezug auf die Orientierung im öffentlichen Raum und auf ihre Sicherheit», erklärt Olivier Maridor, selbst Betroffener.

Sehbehinderte werden zu Blinden
Ein wichtiger Punkt sei zudem, dass mit einer ausreichenden Beleuchtung auch mehr Menschen inkludiert werden. «Wir sitzen nicht alle ab 16 Uhr zu Hause in einem Heim. Wir sind auch unterwegs, wenn es eindunkelt, und da sind wir auf ausreichende Beleuchtung und auf Rücksicht von anderen angewiesen», so der SBV-Interessensvertreter. «Die Massnahme würde diese Menschen sprichwörtlich zu Blinden machen.» Er habe selber Erfahrung damit, lebt in einem kleineren Ort im Kanton Bern. «Vor allem in Dörfern und kleineren Städten kann es schnell gefährlich werden, wenn die Beleuchtung reduziert wird. Das habe ich schon bei mir zu Hause: Auf meinem Heimweg komme ich an zwei Stellen mit geringer Beleuchtung vorbei. Das ist jedes Mal eine Herausforderung», erzählt er.

Vor allem auch für Menschen, die noch eine geringe Sehkraft besässen so wie er, seien solche Stellen gefährlich. «Wir verlassen uns auf unsere verbliebene Sehfähigkeit. Wenn die Kontraste aber plötzlich fehlen oder nicht ausreichen, kommen wir schnell an unsere Grenzen.» So würden Trottoirs oder Randsteine schnell übersehen und zu Stolperfallen werden. «Da läufst du, grob gesagt, herum wie eine blinde Kuh!»

Auch Jeanine Ulrich aus Stammheim kennt diese Stolperfallen. Im Rahmen der Aktionen des Schweizerischen Blindenbunds zum «Tag des weissen Stocks» erzählt sie als Betroffene aus ihrem Leben.

Es mache für sie einen grossen Unterschied, ob ein Weg beleuchtet sei oder nicht. Das merke man vor allem auch auf dem Land, so wie hier im Weinland. «In Dörfern sind Randabschlüsse oder Trottoirübergänge nicht immer klar. Da ist etwas Licht oft Gold wert.» Auch im Winter: «Wenn es dunkel und nass ist, fällt die Orientierung schwerer. Da ist man um jede Hilfe dankbar», meint sie.

Intelligente Systeme als Lösung
Auch für Auto- und Velofahrende fände sie es besser, wenn die Beleuchtung nicht ausgeschaltet würde. «Wir zählen darauf, dass Fahrzeuglenker uns sehen, da wir sie selber nicht sehen können. Wenn sie uns und zum Beispiel die Reflektoren an unserem weissen Stock aber mangels geringer Lichtverhältnisse auch nicht sehen, wird es für beide Seiten gefährlich.»

Als Lösung für das «Beleuchtungsproblem» sähe Olivier Maridor der Einsatz von intelligenten Lichtsystemen. «Solche Systeme, die das Licht bei Nichtbenutzung reduzieren, wären optimal. Sobald jemand vorbeigeht, passt sich das Licht an und wird heller», sagt er. Auf diese Weise würden sehbehinderte und blinde Menschen keinen «Helligkeitsschock» erleiden und könnten die Orientierung behalten.

«Solche Systeme sind zwar teuer, auf lange Frist würden sie sich aber auszahlen», ist Olivier Maridor überzeugt. Und: Sie wären eine Bereicherung für diverse Anspruchsgruppen. «Nicht nur für Menschen mit einer Sehbehinderung oder für Blinde, sondern auch für die Umwelt und die Tierwelt.» Das Ziel, Ener­gie­ zu sparen, könne auf diese Weise ebenfalls erreicht werden.

Wachsam durch den Alltag
Der vorgeschlagenen Massnahme, die Beleuchtung zu reduzieren, steht auch Marc Fehlmann aus Flaach kritisch gegenüber. Neben seiner Tätigkeit als (Blinden-)Hundeausbildner bei der Stiftung Simpera Flaach ist er zudem Mitglied in der Schweizer Fachkommission «hindernisfreie Architektur» und beschäftigt sich mit ebensolchen Themen (AZ vom 19.7.2022). «Wenn Beleuchtungen abgestellt oder gedimmt werden, reduzieren sich die Kontrastwerte, die für Betroffene jedoch enorm wichtig sind und ihnen als Orientierungshilfe im Alltag dienen.»

Das sei das Gleiche wie bei Hindernissen, die im öffentlichen Raum gebaut werden wie zum Beispiel Reflektoren oder Linien. «Das alles funktioniert nur, wenn eine Grundhelligkeit vorhanden ist», erklärt er.

Unverzichtbar sei natürlich auch die Achtsamkeit und das Bewusstsein der Mitmenschen. Der «Tag des weissen Stocks» sei dafür bestens geeignet, um diese weiter zu fördern. Im Alltag könne man Betroffene eigentlich leicht unterstützen, sagt Marc Fehlmann. «Wenn man Leitlinien und andere Orientierungshilfen freihält, mit wachem Blick durch die Leute auf dem Gehweg geht und vor allem aktuell E-Scooter und Ähnliches nicht unbedacht auf den Trottoirs abstellt, ist schon viel getan.» So sei ein inklusives Miteinander möglich.

Auch die Wichtigkeit des weissen Stocks anzuerkennen, helfe enorm. «Wer sein Wissen über die Funktion des seit 1938 als Schutz- und Erkennungszeichen amtlich anerkannten Hilfsmittels ausbaut, kann bewusster auf die Stockbesitzer- und -besitzerinnen eingehen.» Mehr dazu im Text unten.

Wissenswertes zum weissen Stock


Wer mit offenen Augen unterwegs ist, sieht im Alltag immer wieder Menschen mit einem weissen Stock. Die meisten wissen: Dabei handelt es sich um sehbehinderte oder blinde Fussgängerinnen und Fussgänger. Was gilt es sonst noch dar­über zu wissen?

Der weisse Stock dient Betroffenen zur gefahrlosen Fortbewegung, da mittels des Stockes Hindernisse wahrgenommen werden können. Zudem hilft er bei der Orientierung drinnen und draus­sen. Andererseits zeigt er den Mitmenschen, dass die Person eine Sehbeeinträchtigung hat. Der weisse Stock schafft Klarheit, Verständnis und Rücksichtnahme und bietet auch einen rechtlichen Schutz.

1. Wer mit dem weissen Stock unterwegs ist, ist nicht unbedingt blind. Denn rund 80 Prozent der Stockbenutzer und -benutzerinnen haben noch einen kleinen Sehrest, sind also nicht vollkommen blind.

2. Die weisse Farbe ist historisch bedingt. Früher waren andere Stöcke meist schwarz, so konnte man ihn seit jeher von anderen Stöcken gut unterscheiden. Ausserdem ist die weisse Farbe reflektierend, sodass die betroffene Person auch bei Nacht deutlich besser sichtbar ist.

3. Der weisse Stock ist ein rechtlich festgelegtes Verkehrsschutzzeichen mit Vortrittsrecht beim Überqueren der Strasse. In der Stras­senverkehrsordnung steht: «Unbegleiteten Blinden ist der Vortritt stets zu gewähren, wenn sie durch Hochhalten des weis­sen Stocks anzeigen, dass sie die Fahrbahn überqueren wollen.» Wer dies nicht beachtet, dem droht ein Strafverfahren mit Gerichtsverhandlung.

4. In einer Orientierungs- und Mobilitätsschulung erlernen die Betroffenen den Umgang mit dem Stock. Diese wird zum Beispiel vom Schweizerischen Blindenbund angeboten. Für viele ist es zu Beginn eine Überwindung, sich für einen weissen Stock zu entscheiden. Man outet sich damit sofort als sehbehinderte Person, was nicht immer leicht ist.

5. Es gibt verschiedene Arten von weis­sen Stöcken: Langstöcke, Signalstöcke, Stützstöcke, Wanderstöcke, Unterarmgehstützen – jeder mit einer anderen Funktion und anderem Nutzen für die betroffene Person mit ihrem individuellen Sehvermögen oder ihrer Blindheit, je nachdem, ob noch ein Blindenführhund mit dabei ist oder sonstige Vorlieben der betroffenen Person bestehen. Jetzt schon gibt es Stöcke mit Lasererkennung oder anderen Zusatzfunktionen zur Hindernis­erkennung.

6. Der weisse Stock ist immer einen Schritt voraus. Durch Pendelbewegung mit dem Langstock ist es dem Besitzer oder der Besitzerin möglich, zu merken, ob der Weg frei ist, um gefahrlos ans Ziel zu kommen. Hilfreich dabei sind taktile Leitlinien­systeme. Diese sollten immer freigehalten werden. Aber auch Trottoirrandabschlüsse, Belagswechsel, Wasserrinnen, Pfosten und andere bauliche Elemente vermitteln Orientierung und weisen den Weg.

7. Der weisse Stock nützt nur, wenn er auch gesehen wird. Heute sind viele Menschen in Eile, schauen auf ihr Handy, hören Musik und achten weniger auf entgegenkommende Mitmenschen. Sehbehinderte und blinde Fussgängerinnen und Fussgänger sind dar­auf angewiesen, dass man sie mit ihrem weissen Stock wahrnimmt, ihnen den Weg frei macht und sie gefahrlos passieren lässt. (az)