Welche Schule braucht die Zukunft?

Rheinau - Um zu erklären, was hinter dem Lehrplan 21 steckt, blickte Dozent Rolf Gollob auf 200 '000 Jahre Lernen zurück. Die gemeinsame Elterninformation für die Gemeinden des Sek-Kreises Mar­tha­len war ein Erlebnis.

Roland Spalinger (spa) Publiziert: 06. April 2018
Lesezeit: 3 min

So unterhaltsam kann also ein Elterninformationsabend sein. Oder auch Schule. «Den hätte ich gern als Lehrer gehabt», sagte eine Frau nach der rund zweistündigen, äusserst kurzweiligen Veranstaltung in Rheinau, organisiert von allen Schulen im Sek-Kreis Mar­tha­len. Die Ankündigung, «Prof. Dr. Rolf Gollob, Dozent der Pädagogischen Hochschule Zürich, wird uns in den Lehrplan 21 einführen …», hatte doch eher einen trockenen Dienstagabend erwarten lassen.

Ethnologe Gollob erklärte den über 150 Anwesenden nicht die Stundentafel des neuen Lehrplans oder Lektioneninhalte. Er stellte das Lernen in einen Kontext von 200'000 Jahren. War­um in der Steinzeit die Menschen Nomaden waren und wie sie sich weiterentwickeln mussten, als sie beschlossen, sesshafte Landwirte zu werden. Um zum Beispiel Milch haltbar machen zu können, musste erst Käse erfunden werden. «Oder war­um heisst der Schüblig in Deutschland Dauerwurst?» Nur so konnte die Überproduktion aufbewahrt werden, sagte er.

Heisse oder kalte Gesellschaft
Rolf Gollob orientierte sich an Claude Lévi-Strauss (dem Ethnologen, nicht dem mit den Jeans). Dieser unterteilte die Gesellschaften in heiss (Antrieb zu tief greifender und schneller Modernisierung) und kalt (traditionelle Kulturmerkmale möglichst unverändert bewahren). Den Unterschied machte er mit Bildern deutlich: da der Mann aus dem Busch, der seinem Sohn den Umgang mit Pfeil und Bogen erklärt, dort der Astronaut. Die statische Gesellschaft im Busch, so der Referent, komme in Gefahr, wenn das Wissen nicht weitergegeben werde. Würden zum Beispiel Muttertiere geschossen, fehlen im nächsten Jahr die Jungen. In der Innovationsgesellschaft wiederum geriete das Überleben der Gruppe in Gefahr, würde das Wissen und Können der Vorfahren kritiklos übernommen; der Astronaut konnte ja nicht seinen Vater fragen.

Ein anderes Beispiel betraf den Schweizer Rebbau, der auf den Druck ausländischer Weine (und den massiven Einbruch der heimischen Tropfen) mit der Schule in Wädenswil reagierte und auf Qualität statt Quantität setzte. «Der Wandel war Lernprozess und die einzige Chance, als Weinbauer zu überleben», sagte er. Heute wüssten Winzer, dass sie nie fertig gelernt haben.

Das Hirn lerne an sich aber nicht gern, und der Mensch lerne nur, wenn er müsse, sagte Rolf Gollob. Auch Lehrerinnen und Lehrer und die Schule wünschten sich nicht per se einfach Veränderungen. Es seien die Umstände, die dies erforderten. Er nannte zwei Beispiele: den Sputnik-Schock 1957, als die Russen als Erste im All waren und die USA sich fragte, ob diejenigen, die von der Schule kommen, das Richtige gelernt haben. In der Schweiz war 2001 nach dem «Pisa-Schock» eine Reaktion gefragt, als Schüler in der Studie der OECD-Staaten unter dem Durchschnitt lagen. Mit hohen 86 Prozent sprachen sich 2006 die Stimmberechtigten von 21 Deutschschweizer Kantonen für eine Harmonisierung des Unterrichts aus und somit für einen Rahmenlehrplan.

Bewertung noch ungelöst
Was ist nötig, was nicht mehr, was brauchen Jugendliche, was müssen sie können und was braucht die Gesellschaft? Als Antwort auf solche Fragen wurde der Fokus auf Kompetenzorientierung gelegt, sprich Wissen aneignen, dieses anwenden können und wollen. Und dies bei begrenzter Unterrichtszeit und für eine unbekannte Zukunft.

Kompetenz zeige sich im Handeln, so Rolf Gollob, «sie ist nur in der Anwendung sichtbar». Eine Schwierigkeit sei deshalb noch nicht gelöst, gab er offen zu: Wie Lehrpersonen die Jugendlichen bewerten. Aber Noten werde es immer noch geben, antwortete er auf die Frage einer Mutter. Ansonsten ändere sich an der Schule nicht viel. Denn im Sommer werde der Lehrplan 21 nicht eingeführt, sondern fange dessen Umsetzung vorerst für die Unter- und Mittelstufe bis 5. Klasse an.