«Nicht alle sehen die Welt so, wie du sie siehst»
Dachsen: Was ist Synästhesie, und haben auch Nicht-Synästheten Verknüpfungen von Buchstaben und Farben? Diesen Fragen ging Jessica Engler in ihrer Maturarbeit nach.
Von Jasmine Beetschen
Cathrin Nussbaumer hat sich gut mit ihrer Synästhesie arrangiert, für sie gehört ihre Besonderheit zum Leben dazu (siehe Artikel oben). Weniger präsent war das Thema bei Jessica Engler aus Dachsen. Als eine Kollegin ihr vor einem Jahr an Silvester erzählte, dass es Menschen gibt, die Farben schmecken oder Töne fühlen, konnte sie sich erst überhaupt nichts darunter vorstellen. Was passiert da genau, und wie oft kommt dieses Phänomen eigentlich vor? «Es ist ein extrem spannendes Thema, das aber leider viel zu wenig beachtet wird – deshalb machte ich es zum Inhalt meiner Maturarbeit», erklärt sie.
Wichtig vorab war ihr, zu betonen, dass Synästhesie als Phänomen und nicht als Krankheit bezeichnet wird. «Es ist ja eine Bereicherung, eine Erweiterung der neurologischen Aktivitäten.» Dabei löst ein induzierter Reiz eine nachfolgende Wahrnehmung aus, beispielsweise wenn das Hören eines Tones die Wahrnehmung einer Farbe auslöst. Es ist also im Grunde eine Verflechtung von Sinnesmodalitäten: Ein Sinnesreiz wird wahrgenommen, dabei wird jedoch das Verarbeitungszentrum eines anderen Sinnesorgans mit erregt.
Die häufigsten Kombinationen sind Graphem mit Farbe, Zeiteinheit mit Farbe, musikalischer Ton mit Farbe und Geräusch mit Farbe. «Es gibt aber – laut Synästhesie-Forscher Richard E. Cytowic – bis zu 150 bekannte Arten und diverse Kombinationen», so Jessica Engler. Die Synästhesie sei familiär bedingt, inwiefern das Phänomen jedoch vererbbar sei, sei noch unklar. Allgemein befinde sich die Erforschung dieses Bereichs noch relativ am Anfang.
Für ihre Arbeit nahm die Schülerin mit vier Synästheten, die unterschiedlich ausgeprägte Formen haben, Kontakt auf. Eine davon ist Elisabeth Sulser. Auch sie hat ihre Synästhesie – wie Cathrin Nussbaumer – zum Positiven umgewandelt. Sie kann Töne und Klänge «sehen», in bestimmten Farben und Formen. Und als Künstlerin setzt sie mittlerweile ihre Lieder in Gemälde um. «Ihre Geschichte faszinierte mich, doch gleichzeitig merkte ich, wie gross dieses Feld ist», so Jessica Engler. Deshalb passte sie ihr Untersuchungsziel an.
Mathe ist rot, Winter ist blau
«Ich konzentrierte mich daraufhin in meiner Arbeit auf Assoziationen von Worten und Farben, auch bei Nicht-Synästheten», erklärt sie.
DafĂĽr fĂĽhrte sie mit 44 SchĂĽlerinnen und SchĂĽlern der 2. Sekundarstufe Uhwiesen den sogenannten Mann-ÂWhitney-U-Test durch. Mittels Farbstreifen sollte die Gruppe, aufgeteilt in Mädchen und Jungen, bestimmten Begriffen eine Farbe zuordnen, die fĂĽr sie zusammengehören. Dabei entdeckte sie, dass Menschen automatisch VerknĂĽpfungen herstellen, meist aufgrund von Gegebenheiten aus dem Alltag. «Der Winter ist fĂĽr uns blau, denn dies ist eine kalte Farbe, Mathe oft rot, da das Matheheft bei vielen schon in der Primarschule rot war, und Biologie zum Beispiel ist grĂĽn, da wir diese Farbe mit der Natur verbinden», zählt Jessica Engler einige Resultate auf.
Eine Graphem-Farb-Synästhesie konnte sie aber bei keinem der SchĂĽÂler feststellen. Doch solche Tests helfen, eine Synästhesie erst zu bemerÂken. Denn die meisten Menschen erkennen sie erst, wenn sie mit anderen ins Gespräch kommen und merken, dass ihre Wahrnehmungen nicht «normal» sind. «Umso wichtiger ist es deshalb, ĂĽber diese Formen zu sprechen, das Bewusstsein und vor allem die Akzeptanz fĂĽr das Phänomen zu stärken», ist Jessica Engler ĂĽberzeugt. «Denn: Nicht alle sehen die Welt so, wie du sie siehst – und das ist doch auch etwas Schönes.»
Wenn sich farbige Zahlen streiten