Weinland

Wenn sich farbige Zahlen streiten

Sie spürt Geräusche, hört mit den Augen und schmeckt Bilder: Cathrin Nussbaumer ist Synästhetin und nimmt Reize mit mehreren Sinnen wahr. Was sie inzwischen als grosses Privileg empfindet, führte in der Schulzeit zu Problemen.

von Bettina Schmid aufgezeichnet
09. April 2021

«Mein Dienstag ist orange, von einigen Musikrichtungen wird mir schlecht, und wenn ich es regnen höre, erscheint alles in wunderschönem Hellblau. Sehe ich ein Metallgeländer, habe ich den Geschmack auch im Mund, ist mein Gegenüber wütend, umgibt es ein feuerroter Schleier, und Schmerzen anderer spüre ich oft am eigenen Körper. Richtig spannend wird es bei den Zahlen, denn diese können sich streiten. Die Fünf ist beispielsweise mitternachtsblau und sehr dominant, die Sechs dagegen blassgelb, weiblich und scheu, die Sieben mit ihrem Grasgrün wieder männlich und etwas faul. Das führt dazu, dass ich in der Schule beim Rechnen die Sechs zwischen ihren dominanten Nachbarn oftmals übersah.

Das alles hört sich für Sie seltsam an, und Sie fragen sich, ob ich nicht einfach Drogen genommen habe? Nein, denn Synästhesie und der damit verbundene Stoffwechselprozess im Hirn ist neurologisch messbar. Menschen, die dies haben, erleben neben der normalen Wahrnehmung zusätzliche Empfindungen, wenn ein Sinnesreiz ausgelöst wird (siehe Text unten). Deshalb nehme ich einen visuellen Reiz nicht nur mit den Augen, sondern auch noch mit dem Geschmack wahr, oder einen akustischen Reiz zusätzlich mit den Augen. Viele bekannte Künstler wie der Komponist Franz Liszt oder Lady Gaga sind übrigens Synästheten, oder auch Albert Einstein.

Das erste Mal bewusst bemerkt, dass bei mir etwas anders ist, habe ich als 20-Jährige während meiner Tätigkeit als Fitnesstrainerin. Einem Kursteilnehmer fiel mein sehr gutes Erinnerungsvermögen auf. Er fragte mich, wie ich mir bloss diese unzähligen Vor- und Nachnamen merken könne. Ich antwortete ihm, ich müsse dafür nur die Kacheln mit den Namen in meinem Gedächtnis durchblättern. Jeder Mensch, den ich kenne, hätte ja eine bestimmte Farbe, und so ginge die Zuordnung einfach. Sein entgeisterter Blick zeigte mir, dass dies für ihn total fremd war, ebenso wie für die anderen Kursteilnehmer.

Synästhesie ist erblich bedingt
Als ich kurze Zeit später zufällig die Folge einer Krimiserie im Fernsehen sah, die von Synästhesie handelte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, denn alle sogenannten Kuriositäten waren für mich normal. Ich begann, mich zu informieren und auszutauschen. Wir merkten, dass zwei meiner vier Geschwister dies auch noch haben, ebenso meine Mutter – Synästhesie ist vererblich. Und vielfältig, denn es gibt über 60 Formen davon, ich habe neun.

Unter anderem etwa die Farbsynästhesie, die Ordinal Linguistic Personification oder die Personen-Farb-Synästhesie. Das heisst, alle Gegenstände, jeder Mensch, jedes Tier, jedes Wort und jede Zahl hat eine Farbe, ein Geschlecht und einen Charakter. Auch das Hören ist verknüpft mit Farben, Musik ist für mich eine bunte Explosion. Ebenso als Farben wahr nehme ich Stimmungen und Schmerz. Meine Blinddarmentzündung beschrieb ich dem Arzt damals etwa als schwarz und zäh, Gelenkschmerzen dagegen als weiss und fliessend.

Meine erweiterte Wahrnehmung ist inzwischen ein Segen für mich, denn meine Welt ist dadurch wunderbar bunt. Zudem bin ich durch die Synästhesie ein sehr sensibler Mensch, der die Emotionen des Gegenübers besonders gut spürt. Gefühle schweben als farbige Wolke über der Person, und dieser Schleier ändert seine Farbe je nach Stimmung. Etwas, das mir in meiner Tätigkeit als mentaler Gesundheitscoach und als Medizinische Massagetherapeutin zugute kommt.

Schulprobleme durch Unwissenheit
Dennoch hat die Synästhesie auch Schattenseiten. Man muss gut auf sich selbst schauen, um  Reize und fremde Emotionen auch mal ausblenden zu können, sonst wird es zu viel. Als Kind konnte ich dies noch nicht und hatte dadurch Probleme, vor allem in der Schule. Während ich etwa in den Sprachen ausserordentlich gut war, hatte ich in Mathematik meine liebe Mühe. An den einfachsten Kopfrechnungen biss ich mir die Zähne aus. Zwei und zwei gleich vier? So einfach ist dies nicht, denn die Zwei ist männlich und die Vier weiblich, wie soll es aus Männlein und Männlein ein Weiblein geben? Die Zahlen in den Rechnungen stritten sich zudem häufig so stark, dass ich die weniger dominanten schlichtweg übersah oder die Aufgabe durch die fehlende Harmonie für mich unlösbar war.

Mein Lehrer hatte keinerlei Verständnis für meine Schwierigkeiten: «Stell dich nicht so an» oder «Du bist einfach zu faul.» Ich wurde von verschiedenen Stellen abgeklärt, von Nachhilfeunterricht zu Nachhilfeunterricht geschleppt, alles vergebens. Auch eine Diagnose wurde nie ge­stellt – Synästhesie war einfach noch nicht bekannt. Mit Folgen für mein Selbstbewusstsein. Ich kam mir dumm vor.

Synästhesie ist keine Krankheit
Um der nachfolgenden Generation dieselben negativen Erfahrungen zu ersparen, setze ich mich dafür ein, dass Synästhesie bekannter wird, auch an den Schulen. Denn immer noch wissen nur wenige, was das ist, obwohl gemäss Schätzungen einer von 23 Menschen davon betroffen ist.

Zurzeit erarbeite ich zusammen mit einer Synästhesie-Expertin, einer Psychologin, die an der Universität Zürich dazu forschte, eine Infomappe für Lehrpersonen und andere Interessierte. Mein Plan ist, zu einem späteren Zeitpunkt auch Vorträge zu halten. Denn Synästhesie ist eine Bereicherung und keine Belastung, sofern man sie einschätzen und richtig damit umgehen kann.»

«Synästhesie ist eine Bereicherung, und man sollte mehr darüber sprechen», ist Jessica Engler überzeugt.
«Synästhesie ist eine Bereicherung, und man sollte mehr darüber sprechen», ist Jessica Engler überzeugt. / Jasmine Beetschen

«Nicht alle sehen die Welt so, wie du sie siehst»


Dachsen: Was ist Synästhesie, und haben auch Nicht-Synästheten Verknüpfungen von Buchstaben und Farben? Diesen Fragen ging Jessica Engler in ihrer Maturarbeit nach.


Von Jasmine Beetschen


Cathrin Nussbaumer hat sich gut mit ihrer Synästhesie arrangiert, für sie gehört ihre Besonderheit zum Leben dazu (siehe Artikel oben). Weniger präsent war das Thema bei Jessica Engler aus Dachsen. Als eine Kollegin ihr vor einem Jahr an Silvester erzählte, dass es Menschen gibt, die Farben schmecken oder Töne fühlen, konnte sie sich erst überhaupt nichts darunter vorstellen. Was passiert da genau, und wie oft kommt dieses Phänomen eigentlich vor? «Es ist ein extrem spannendes Thema, das aber leider viel zu wenig beachtet wird – deshalb machte ich es zum Inhalt meiner Maturarbeit», erklärt sie.

Wichtig vorab war ihr, zu betonen, dass Synästhesie als Phänomen und nicht als Krankheit bezeichnet wird. «Es ist ja eine Bereicherung, eine Erweiterung der neurologischen Aktivitäten.» Dabei löst ein induzierter Reiz eine nachfolgende Wahrnehmung aus, beispielsweise wenn das Hören eines Tones die Wahrnehmung einer Farbe auslöst. Es ist also im Grunde eine Verflechtung von Sinnesmodalitäten: Ein Sinnesreiz wird wahrgenommen, dabei wird jedoch das Verarbeitungszentrum eines anderen Sinnesorgans mit erregt.

Die häufigsten Kombinationen sind Graphem mit Farbe, Zeiteinheit mit Farbe, musikalischer Ton mit Farbe und Geräusch mit Farbe. «Es gibt aber – laut Synästhesie-Forscher Richard E. Cytowic – bis zu 150 bekannte Arten und diverse Kombinationen», so Jessica Engler. Die Synästhesie sei familiär bedingt, inwiefern das Phänomen jedoch vererbbar sei, sei noch unklar. Allgemein befinde sich die Erforschung dieses Bereichs noch relativ am Anfang.

Für ihre Arbeit nahm die Schülerin mit vier Synästheten, die unterschiedlich ausgeprägte Formen haben, Kontakt auf. Eine davon ist Elisabeth Sulser. Auch sie hat ihre Synästhesie – wie Cathrin Nussbaumer – zum Positiven umgewandelt. Sie kann Töne und Klänge «sehen», in bestimmten Farben und Formen. Und als Künstlerin setzt sie mittlerweile ihre Lieder in Gemälde um. «Ihre Geschichte faszinierte mich, doch gleichzeitig merkte ich, wie gross dieses Feld ist», so Jessica Engler. Deshalb passte sie ihr Untersuchungsziel an.

Mathe ist rot, Winter ist blau
«Ich konzentrierte mich daraufhin in meiner Arbeit auf Assoziationen von Worten und Farben, auch bei Nicht-Synästheten», erklärt sie.

Dafür führte sie mit 44 Schülerinnen und Schülern der 2. Sekundarstufe Uhwiesen den sogenannten Mann-­Whitney-U-Test durch. Mittels Farbstreifen sollte die Gruppe, aufgeteilt in Mädchen und Jungen, bestimmten Begriffen eine Farbe zuordnen, die für sie zusammengehören. Dabei entdeckte sie, dass Menschen automatisch Verknüpfungen herstellen, meist aufgrund von Gegebenheiten aus dem Alltag. «Der Winter ist für uns blau, denn dies ist eine kalte Farbe, Mathe oft rot, da das Matheheft bei vielen schon in der Primarschule rot war, und Biologie zum Beispiel ist grün, da wir diese Farbe mit der Natur verbinden», zählt Jessica Engler einige Resultate auf.

Eine Graphem-Farb-Synästhesie konnte sie aber bei keinem der Schü­ler feststellen. Doch solche Tests helfen, eine Synästhesie erst zu bemer­ken. Denn die meisten Menschen erkennen sie erst, wenn sie mit anderen ins Gespräch kommen und merken, dass ihre Wahrnehmungen nicht «normal» sind. «Umso wichtiger ist es deshalb, über diese Formen zu sprechen, das Bewusstsein und vor allem die Akzeptanz für das Phänomen zu stärken», ist Jessica Engler überzeugt. «Denn: Nicht alle sehen die Welt so, wie du sie siehst – und das ist doch auch etwas Schönes.»


Maturarbeiten

In ihren Maturarbeiten gehen die Schülerinnen und Schüler aus dem Weinland gros-sen Fragen nach. Die «Andelfinger Zeitung» stellt sie vor. (az)

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