Sport

Ehre dem weltschnellsten Guntalinger

Am 7. Juli ist in Argentinien der frühere Formel‑1-Pilot Carlos Reutemann verstorben. Seine Urgrosseltern sind 1859 aus Guntalingen dorthin ausgewandert. Damit beschäftigen sich bis heute Verwandte auf beiden Seiten des Ozeans.

von Silvia Müller
24. September 2021

Zwischen 1972 und 1982 fuhr der Argentinier Carlos Alberto Reutemann Formel 1 für die Rennställe Brabham, Ferrari, Lotus und Williams. Insgesamt zwölf Grand Prix entschied er in diesen Jahren für sich. Am Ende der Saison mit normalerweise 15 Rennen wurde er zwar nie Weltmeister, aber dreimal wurde er WM-Dritter und 1981 gar Zweiter.

Doch nicht um die sportlichen Erfolge und Misserfolge des 1942 Gebo­renen soll es hier gehen, die sind im Internet kompetent analysiert nachzulesen. Was dabei auffällt: Fast alle Autoren betonen das Charisma und die aussergewöhnliche Persönlichkeit Carlos Reutemanns – und sein Aussehen.

Auf TuchfĂĽhlung mit dem Weltstar
Beides blieb auch im Weinland nicht unbemerkt. Als Carlos Reutemann 1979 in Zürich Sponsorverpflichtungen nachkam und Autogramme verteilte, war Christoph Ammann als Journalist der «Andelfinger Zeitung» dabei – und auch ihn beflügelte der «tollkühne Pistenheld» zu zwei restlos begeisterten Artikeln.

Dass die Redaktion vom Lande überhaupt jemanden an die Zürcher Bahnhofstrasse schickte, geschah aus gutem Grund: Es galt, eine stolze, über 30-köpfige Guntalinger Delegation zu begleiten, die dem Weltstar Grüsse und Geschenke aus jenem Dorf brachten, aus dem seine Urgrosseltern vor mehr als 100 Jahren ausgewandert waren. An der Spitze der Delegation von 1979 war Gemeindeammann Jakob Reutimann. 2007 reiste dessen Sohn Kaspar Reutimann, damals selbst Gemeindepräsident, nach Argentinien, um sich ein Bild vom Leben der entfernten Verwandten in Südamerika zu machen. Zu einem Treffen mit dem vielbeschäftigten Carlos Reutemann kam es damals nicht.

EinbĂĽrgerungsgesuch
Drei Jahre später beantragte Carlos Reutemann die argentinisch-schweizerische Doppelbürgerschaft. «Innerhalb des Gemeinderats übernahm ich dafür die nötigen Abklärungen und administrativen Schritte», erzählt Kaspar Reutimann.

Aus Guntalinger Sicht stand dem Ansinnen nichts im Wege, und auch der Kanton und danach der Bund erlaubten 2010 die Ausstellung eines roten Passes für den einstigen Rennfahrer, der längst in die argentinische Politik gewechselt hatte – ab 1991 hatte er als Gouverneur und Senator geamtet, und 2003 und 2009 war er gemäss Wikipedia sogar als Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten im Gespräch, verzichtete aber auf eine Kandidatur.

Besuch in Santa FĂ©
2014 reiste Kaspar Reutimann erneut nach Argentinien, zusammen mit seiner Frau Ulla und den Söhnen Pascal und Oliver, damals 16 und 21 Jahre alt. Vor der Abreise meldeten sie sich bei Carlos Reutemann, der ihnen ein Treffen angeboten hatte. «Er verabredete sich tatsächlich spontan mit uns. Wir warteten alle etwas nervös und sorgfältig angezogen auf ihn, immerhin war er Senator», erinnert sich Kaspar Reutimann. «Und dann kam er im légèren Freizeitlook durch die Türe, sogar mit Adiletten an den Füssen.»

Ihre Befangenheit sei schnell verflogen, denn auch Carlos Reutemanns Gesprächsstil erwies sich als unkompliziert. Die Konversation fand auf Englisch und Spanisch statt: Die Deutschkenntnisse der Guntalinger Auswanderer gingen schon in der Generation vor Carlos zu Ende – so hatte es jedenfalls 1979 Christoph Ammann für die «AZ» in Erfahrung gebracht.

Früh übt sich …
Und so erfuhren die Burschen aus der Schweiz – wo die Kinder in der fünften Klasse sogar fürs Velo eine Prüfung in Theorie und Praxis ablegen –, wie Klein Carlos in Argentinien zum Rennfahrer wurde: Seine Eltern hatten eine grosse Farm und keinen Führerschein. Ihr Sohn hingegen stellte sich hinter dem Steuer schon mit zehn oder elf Jahren so geschickt an, dass er sie bald chauffieren durfte und auf motorisierte Botengänge auf dem Anwesen geschickt wurde. Der Platz und die Freiheit auf der Farm reichten auch für einen Geländeparcours, auf dem er ungestört bremsen, beschleunigen und schleudern üben konnte.

Von da war es nur ein kurzer Weg zum Go-Kart- und Rallye-Sport, und dies wurde sein Einstieg in die Kö­nigsklasse. In sein Jahrzehnt fielen die schweren Unfälle des Österreichers Niki Lauda (1976) und des Schweizers Clay Regazzoni (1980).

Auf der Rennbahn waren der Tessiner und der Argentinier Konkurrenten, neben der Piste seien sie aber die «besten Kol­legen in der Szene» und später im Privatleben Freunde gewesen, erzählte Reutemann den Reutimanns.

Lieber bauern statt rasen
Natürlich kam das Tischgespräch auch auf die «Rennfahrerei heute». Der inzwischen 72-Jährige konnte ihr nicht mehr viel abgewinnen: «Die Technik war ihm zu wichtig geworden, die Rolle des Fahrers zu eingeengt», erinnert sich Kaspar Reutimann. «Zu seiner Zeit schalteten die Rennfahrer noch manuell und hatten keine Kopfhörer mit Regieanweisungen zur Verfügung. Während des Rennens war jeder einsam und auf sich selbst gestellt, ohne genau zu wissen, wie er und wie die Konkurrenten unterwegs waren. Mit der technischen Entwicklung hatte die Formel 1 in seinen Augen schon da den Reiz des Handwerks verloren.»

Nicht so die Landwirtschaft – die interessierte den Farmbesitzer bis zuletzt, trotz seiner sportlichen und politischen Karriere. «Er stellte uns viele Fragen zur Landwirtschaft im Stammertal», erzählt Kaspar Reutimann. Doch nach zwei Stunden essen und reden ging es  trotzdem wieder um schnelle Motoren: «Die Burschen durften bei ihm im Audi mitfahren und waren natürlich begeistert», erzählt Kaspar Reutimann. «Die Legende stimmt: Er war wirklich ein sehr smarter, gewinnender Typ mit Charisma – und einem auf Frauen offenbar unwiderstehlich wirkenden Aussehen.»

Stammvater Jakob Reutemann (1822 – 1909, sitzend, in der Mitte) konnte um 1900 bereits 85 Menschen um sich scharen, die in San Carlos zum Familienbund der Reutemanns gezählt wurden.
Stammvater Jakob Reutemann (1822 – 1909, sitzend, in der Mitte) konnte um 1900 bereits 85 Menschen um sich scharen, die in San Carlos zum Familienbund der Reutemanns gezählt wurden. / zvg

Familienforschung hĂĽben und drĂĽben

Das Schweizer Telefonbuch verzeichnet 48 Anschlüsse für Reutemann und 184 für Reutimann, davon 18 in Guntalingen und sehr viele in der nahen Region. Nochmals Hunderte Träger dieses Namens gibt es in Argentinien, dort konzentriert auf die Gegend um San Carlos und Santa Fé. Sie alle stammen von Jakob und Anna Reutemann-Kienast ab, die Guntalingen 1859 verliessen und sich mit vier Kindern in Le Havre einschifften. In der Kolonie zeugten sie weitere vier Kinder. Das hier abgebildete argentinische Familienfoto von etwa 1900 zeigt bereits 85 offensichtlich wohlgenährte und gut gekleidete Menschen, vorwiegend Kinder und Jugendliche.

Dieses Foto ist Teil von Oliver Reutimanns Maturarbeit aus dem Jahr 2012. Im Vorwort schrieb er, wie er auf sein Thema gestossen war: «Vor drei bis vier Jahren trafen meine Eltern (Anm. der Red.: Kaspar und Ulla Reutimann) auf zwei ältere Damen und ein junges Pärchen, die in meinem Wohnort Guntalingen im Zürcher Weinland herumliefen. Diese zwei Damen erkundigten sich, ob und wo hier einst Jakob Reutemann und seine Familie lebte, sie seien aus Argentinien und wollten wissen, wo ihr ursprünglicher Heimatort sei.

Seit dieser Begegnung kamen immer wieder Leute aus Argentinien, um das Haus zu besuchen, wo einst ihre Vorfahren gelebt hatten. Diese Leute waren sichtlich gerührt und den Tränen nahe, als sie das Haus sahen, in dem die Auswandererfamilie Reutemann gelebt hatte. Die Leute begannen sich im Stammbaum bei uns einzutragen, und mittlerweile ist dieser ziemlich vollständig geworden. Meine Eltern besuchten im Gegenzug San Carlos in Argentinien, wo sie von den Menschen herzlich begrüsst wurden.»

Oliver Reutimann zeichnete anhand unveröffentlichter Briefe im Familienbesitz nach, wie das Auswandern und Einleben in der Kolonie abliefen. Sein Fazit: Seine Vorfahren hatten das Tal wohl nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen verlassen – Anna Reutemann deutete mehrfach an, sie seien geplagt, verpönt und verfolgt worden. Ihr Mann beteuerte sogar, er würde auf einer Schweizreise Guntalingen nicht einmal mehr besuchen wollen. Ob es bei den Streitereien um Geld oder vielleicht um Religion ging, verraten Oliver Reutimanns Quellen nicht.

Inzwischen steht seine Familie mit vielen Verwandten in Argentinien in regelmässigem elektronischen Kontakt. Doch das echte Treffen mit dem weltschnellsten Reutemann in Santa Fé ist und bleibt eine ganz besondere Erinnerung. (sm)

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