Weinland

4 Jahre und 6 Monate für «Teufelsritt» über Rastplatz

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Auch mehr als sechs Jahre danach beschäftigt der tödliche Unfall auf der A4 bei der Raststätte Humlikon die Richter. Nun war das Zürcher Obergericht an der Reihe. Es bestätigte das vorinstanzliche Urteil gegen den Verursacher, reduzierte aber die Strafe.

von Manuel Sackmann
26. März 2024

Was sich in den frühen Morgenstunden des 4. November 2017 unweit der «Kreuzstrasse» in Humlikon auf der A4 zutrug, ist kaum fassbar. Das Ereignis geht weit über einen normalen Verkehrsunfall hinaus (siehe Kasten). Der Staatsanwalt sprach am Freitag vor dem Zürcher Obergericht von einem «Teufelsritt» des Beschuldigten.

Das Obergericht musste sich nun damit befassen, weil sowohl die Verteidigung als auch die Staatsanwaltschaft gegen das erstinstanzliche Urteil vom 19. Juli 2021 Berufung eingelegt hatten. Damals hatte das Bezirksgericht Andelfingen den Beschuldigten unter anderem aufgrund fahrlässiger Tötung und fahrlässiger schwerer Körperverletzung zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten verurteilt (AZ vom 6., 16. und 20.7.2021). Hinzu kamen Gerichtskosten und Entschädigungen an die Opfer des Unfalls.

Zu wenig oder zu viel?
Zu wenig, fand der Staatsanwalt. Er störte sich vor allem an der Einordnung als Fahrlässigkeit. Seiner Ansicht nach handelte der Beschuldigte nicht einfach nur grob unvorsichtig, sondern mit Eventualvorsatz. Sprich: Er hielt den Unfall ernsthaft für möglich, fand sich aber bewusst mit dem Risiko ab. Er müsse deshalb härter bestraft werden.

Bereits als viel zu hart erachtete der Verteidiger das erstinstanzliche Urteil. Er meinte, sein Mandant sei durch die finanziellen Kosten sowie den Verlust seines besten Freundes, was ihn auch heute noch belaste, schon genug gestraft. Auf eine Haftstrafe sei zu verzichten, auch weil diese zur Entfremdung zwischen dem Beschuldigten und seinem zweijährigen Sohn führen würde. Ein Eventualvorsatz, wie ihn die Staatsanwaltschaft forderte, sei zudem nicht gegeben. Der Angeklagte sei kognitiv eingeschränkt und habe eine schwierige schulische Laufbahn hinter sich. So habe er die Heilpädagogische Schule besucht, die Theorieprüfung für den Führerausweis erst nach mehreren Anläufen bestanden und seine Ausbildung zum Lastwagen-Chauffeur aufgrund seiner Defizite nach nur einem Jahr in eine Anlehre umwandeln müssen.

Er habe die Unmöglichkeit seines Vorhabens also nicht erkennen kön­-nen – vor allem, weil nicht mehr als zwei Sekunden vergangen seien vom Zeitpunkt, als sein Mandant den LKW bei der Rastplatz-Ausfahrt auf gleicher Höhe erblickt habe, bis zur Kollision. «Das ist nur ein Wimpernschlag und viel zu wenig, um über die möglichen Folgen nachzudenken und auch noch eine Entscheidung zu fällen», so der Verteidiger.

«Man kann es auch übertreiben»
Diese Argumentation sorgte für Kopfschütteln im Saal und führte zu einer deutlichen Replik des Staatsanwalts. «Ich verstehe, dass Sie versuchen müssen, das Beste für Ihren Mandanten herauszuholen, aber man kann es auch übertreiben», sagte er zum Verteidiger. Es sei unverständlich, wie man den Täter zum Opfer machen könne, insbesondere bei einem klar vom Angeklagten verschuldeten Unfall mit Todesfolge. «Es ist einfach Glück, dass es nur einen Toten gab.» Die Frau, die auf der Rückbank schwer verletzt überlebte, war vor Gericht als Privatklägerin ebenfalls anwesend.

Zudem gehe das Verschulden des Angeklagten weit über die letzten zwei Sekunden hinaus. Er habe als Junglenker bewusst den Entscheid gefällt, mit dem Auto nach Zürich in den Ausgang zu gehen, trotz Nulltoleranz alkoholisiert und mit Passagieren nach Hause zu fahren und auch noch ein «halsbrecherisches und lebensmüdes Manöver» zu wagen. Und das alles nur, weil er müde gewesen sei und schnell habe nach Hause kommen wollen.

Während die Plädoyers des Verteidigers und des Staatsanwalts jeweils über eine Stunde dauerten, begnügte sich der Rechtsbeistand der Privatklägerin mit wenigen Minuten. «Der Beschuldigte ist intellektuell nicht so limitiert, dass er nicht wissen konnte, was Alkohol am Steuer bewirkt», sagte der Anwalt. Aus­serdem spiele er Eishockey: «Dieser Sport erfordert sehr viele schnelle Entscheidungen – wie der Strassenverkehr.»

Beschuldigter bleibt vage
Der Beschuldigte selbst hatte am Freitagmorgen nicht viel Neues zu berichten und blieb mehrheitlich vage. Er leide bis heute unter dem Tod seines Freundes und werde dank eines Tattoos auf seinem Unterarm täglich daran erinnert. Seinen Job habe er gewechselt, zu belastend seien die Erinnerungen gewesen. Heute arbeite er im Gerüstbau. «Ich war lange in Behandlung, seit dem letzten Jahr aber nicht mehr.» Familie und Freunde seien für ihn heute die bessere Stütze. Wie viel Schadenersatz und Genugtuung er habe zahlen müssen, wisse er nicht mehr. «Mein Stiefvater hat sich darum gekümmert.» Bestimmt müsse er es zurückzahlen, aber das sei noch nicht geregelt. «Wir haben nie gross darüber gesprochen», sagte der Mann, der seit der Trennung von der Mutter seines Kindes wieder im Elternhaus lebt, ohne dafür Abgaben leisten zu müssen. Die vorsitzende Richterin bezeichnete dies alles als «ungewöhnlich».

Auf ihre genauen Fragen zum Ablauf des Unfalls beziehungsweise der Nacht davor gab der Beschuldigte hingegen kaum Antworten und verwies auf seinen Verteidiger. Emotionen zeigte er einzig, als er bei der Aufzählung der Verletzungen aller Unfallbeteiligten durch die Richterin in Tränen ausbrach. «Ich glaube Ihnen, dass Sie den Unfall bereuen», sagte der Staatsanwalt am Ende zum Beschuldigten. «Aber ich glaube, Sie bereuen vor allem die Auswirkungen auf sich selbst und nicht die auf die anderen.»

Ein Urteil fällte das Obergericht an jenem Freitag noch nicht, sondern eröffnete es diese Woche schriftlich. Es bestätigte den Entscheid der Vorinstanz betreffend der Fahrlässigkeit, reduzierte aber die Strafe. Der Beschuldigte muss für vier Jahre und sechs Monate ins Gefängnis, dazu muss er einen grossen Teil der Verfahrenskosten tragen und der Privatklägerin eine Prozessentschädigung von 2000 Franken entrichten. Eine Begründung zum Urteil lieferte das Obergericht nicht. Es ist noch nicht rechtskräftig.

Ein unmögliches Überholmanöver

Ein damals 19-jähriger Schaffhauser befand sich Anfang November 2017 um 5 Uhr morgens auf dem Heimweg von Zürich, wo er mit Freunden im Ausgang gewesen war. Auf der A4 fuhr der alkoholisierte Junglenker (Blutalkoholgehalt von 1,14 Promille) mit drei Passagieren auf einen Tanklaster auf, der mit rund 80 km/h unterwegs war. Weil ihm dieser zu langsam war, fasste er den folgenschweren Entschluss, den Lastwagen via den Rastplatz bei Humlikon zu überholen – trotz der S-Kurven bei der Ein- und Ausfahrt und obwohl die A4 nur wenige Kilometer weiter zweispurig wird.

Als er die Schikane am Ende des Parkplatzes erreichte, befand er sich erst auf gleicher Höhe mit dem Tanklaster, weshalb er nochmals Gas gab. Aufgrund der viel zu hohen Geschwindigkeit geriet sein Auto ins Schleudern. Es kollidierte zunächst mit dem Anhänger des LKW und danach auf der Gegenfahrbahn mit einem korrekt von Schaffhausen herkommenden Personenwagen. Gravierende Folgen hatte der Unfall insbesondere für zwei Personen, die im Fahrzeug des Beschuldigten auf der Rückbank sassen. Eine junge Frau wurde lebensgefährlich verletzt und ist bis heute körperlich eingeschränkt, für den jungen Mann neben ihr endete der Unfall tödlich (AZ vom 7.11.2017). (msa)

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