Weinland

Ganz zuletzt sind auch die Selbstdarstellungen kollidiert

Der zweite Prozesstag um den Autounfall mit drei jungen Mitfahrern an Bord brachte die Selbstdarstellung des Lenkers und damit die Strategie seines Verteidigers ins Wanken. Das Ersturteil ist gefällt und liegt deutlich unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft.

von Silvia Müller
20. Juli 2021

Vom Medienrummel beim Prozessauftakt zum tragischen Verkehrsunfall beim Rastplatz «Chrüzstrass» («AZ» vom 6.7.2021 und 16.7.) war schon am nächsten Tag nichts mehr zu spüren. Am Freitag überliessen die nationale und die Boulevardpresse das Journalistenzimmer mit der Direktübertragung aus dem Gerichtssaal den lokalen und kantonalen Medien. Diese bekamen auf einen Schlag viel Platz und spannende, exklusive Einsichten.

Dazu beigetragen hat eine unübliche Verfahrensänderung. Nach den Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Anwälte beginnt üblicherweise das Beweisverfahren: Das Gericht befragt Zeugen, Experten oder Gutachter. Danach erhalten die Parteien die zweite Gelegenheit, Schlussplädoyers zu halten, bevor das Gericht das Urteil fällt. Am Freitagmorgen wurde aber eine Wiederaufnahme des Beweisverfahrens beantragt – vom Anwalt der jungen Frau mit schweren gesundheitlichen Schäden: Der Verteidiger habe am Tag zuvor einige Ergänzungen zum Lebenslauf seines Mandanten angekündigt, stattdessen aber für das Urteil relevante Argumente und Beweise nachgereicht, die nochmals genauer betrachtet werden müssten.

Familie hat alles ganz anders erlebt
Das Gericht holte die Zustimmung aller Parteien ein und befragte erneut die Beteiligten im Sinn des Antrags: Litt der Beschuldigte selbst unendlich unter dem Tod seines besten Freundes? Hatte er gegenüber dessen Familie und den anderen Geschädigten tatsächlich Reue gezeigt und die Aussöhnung angestrebt? Hatte die Familie ihm deswegen verziehen? Dies alles hatte sein Verteidiger so dargelegt, quasi als Aufforderung an die Richter, nicht strenger zu urteilen, als es die Betroffenen selbst bereits getan hätten.

Doch nun zeigte sich in der Befragung: Die Eltern und die ältere Schwester des verstorbenen Jugendlichen sahen einige Dinge entschieden anders. Beiderseits so eng sei diese Freundschaft wohl kaum gewesen. Alle wirklich engen Freunde ihres Sohnes seien ihnen bekannt und oft zu Gast gewesen, doch den Beschuldigten hätten sie erst nach dem Unfall persönlich kennengelernt. Genauer gesagt erst im Spital und dort erst 2,5 Stunden, bevor die lebenserhaltenden Maschinen abgestellt werden mussten. «Das war vier Tage nach dem Unfall. Vorher hat er es nicht ans Bett seines sogenannt besten Freundes geschafft», sagte der Vater.

Was die Reue und Aussöhnung angehe: Jeglicher Kontakt sei nicht vom Beschuldigten, sondern von ihnen selbst ausgegangen, weil sie dringend Klarheit gesucht hätten über die Ereignisse. Doch auch nach dem ersten Treffen im Spital hätten alle ihre Versuche, sich mit ihm auszusprechen und Klarheit zu bekommen, «in Absagen, Enttäuschungen und Desastern geendet», gaben die Eltern zu Protokoll. Sie hätten ihm verziehen, das stimme – weil sie Christen seien. «Er sollte dafür dankbar sein und das nun nicht auch noch zu seiner Verteidigung missbrauchen», sagten sie.

«Der grösste Fehler meines Lebens»
Der Verteidiger betonte in seiner Replik: Selbst wenn die Beziehung zwischen den Freunden von aussen unklar sei, heisse das nicht, dass die Sicht seines Mandanten nicht stimme. Ein «gros­ser Beweis» sei, dass sich der Mandant inzwischen sogar das gleiche Tattoo stechen lassen habe wie der Verstorbene, ergänzt mit dem Unfalldatum. Und dass er auch nun im Prozess keine Aussagen gemacht habe, die den Eltern vielleicht Antworten geben könnten, sei lediglich «eine Anordnung» des Verteidigers gewesen.

Damit war bis auf das Schlusswort des Beschuldigten alles gesagt. Dieser stand auf und wandte sich direkt zur Familie um. Er entschuldigte sich und begann zu weinen – das alles habe er nie gewollt, es sei der grösste Fehler seines Lebens und tue ihm von Herzen leid. Das Gericht beriet am Freitagnachmittag und verkündete gestern Montag das Urteil.

Urteil: Kein Eventualvorsatz
Die Staatsanwältin forderte eine unbedingte Haftstrafe von 6 Jahren und 7 Monaten sowie 60 Tagessätze à 100 Franken Geldstrafe – diesem Strafmass liegt die Einordnung als «Eventualvorsatz» zugrunde. Heisst: Der Täter hielt den Unfall ernsthaft für möglich, fand sich aber mit dem Risiko ab. Der Verteidiger hingegen plädierte auf völlige Strafbefreiung und 3200 Franken Busse – sein Mandant sei kognitiv gar nicht in der Lage, die Unmöglichkeit des Manövers zu erkennen.

Das Gericht urteilte stattdessen auf Fahrlässigkeit bei den Anklagen Tötung und lebensgefährliche Verletzung und auf Vorsätzlichkeit beim Verletzen der Verkehrsregeln und beim Fahren mit zu viel Alkohol im Blut. Alles zusammen: 5 Jahre und 2 Monate Haft, unbedingt. Dazu kommen knapp 50'000 Franken Gerichts- und Prozesskosten und gut 10'000 Franken Prozess­entschädigung an die damals schwer verletzte junge Frau. Seinen Verteidiger bezahlt der Staat (27'000 Franken). Alle Parteien, auch die Staatsanwaltschaft, haben nun zehn Tage Zeit für einen Rekurs.

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