Weinland

Altpapier entpuppt sich als Antiquität

Die Sammelequipen finden oft interessante Druckwerke am Strassenrand. Aber selten solche Raritäten wie diese 15 vergilbten Volkskalender.

von Silvia Müller
29. Juni 2021

Bei einer Altpapiersammlung im Stammertal hielt ein Helfer plötzlich ein Bündel uralter, stockfleckiger Heftchen in den Händen. Viel Zeit zum Nachdenken hatte er nicht, doch eins war ihm sofort klar: dass das Bündel nichts war, was man unbesehen in hohem Bogen entsorgen sollte. Also legte er es beiseite, um es in Ruhe genauer anzuschauen.

Ein guter Entscheid. Das unansehnliche «Altpapier» bestand aus 15 Druckheften in Frakturschrift – drei der ältesten sind rund 170 Jahre alt und lokalgeschichtliche Raritäten aus Schaffhauser Druckereien: «Der Schweizerische Volks­freund auf das Jahr 1850» aus der Druckerei Murbach und Gelzer, «Der lustige Schweizer auf das Jahr 1861» aus der Buchdruckerei Ziegler sowie «Der Pilger aus Schaffhausen» von 1849 des Druckers J.F. Schalch (siehe unten).

Eine Anschaffung fĂĽrs ganze Jahr
Volkskalender und Almanache waren die ersten Massenmedien: Billige Gebrauchsliteratur mit dem Jahrmarkt- und Bauernkalender und mit lehrreichem und unterhaltsamem Lesestoff. Auf dem Land wurden diese Kalender in der Regel bei Hausierern gekauft, die mit Torni­stern voller Druck­sachen von Tür zu Tür zogen. «Volkskalender waren für viele Menschen der einzige Lesestoff, abgesehen von der Bibel», sagt Meret Fehlmann vom Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich, wo unter anderem zur sogenannten Volksliteratur geforscht wird.

Im Lauf eines Jahres wurden diese Hefte vom ganzen Haushalt und der Nachbarschaft gelesen. «Die unterhaltsamen Teile trennte man danach oft heraus und reichte sie noch jahrelang weiter», sagt die Wissenschaftlerin. So dürfte es auch dem «Schweizerischen Volksfreund auf das Jahr 1850» aus Schaffhausen ergangen sein, der nach den «lustigen und unterhalt­samen Geschichten», also vor dem amtlichen Teil, abrupt abreisst und grob von Hand mit Faden zusammengeheftet worden ist, um nicht ganz auseinanderzufallen.

Als man Papier noch aufbrauchte
Papier war ein begehrter Rohstoff, in jedem Zustand. Ihren allerletzten Dienst taten zerschlissene Seiten im Holzherd oder auf der Latrine. Deshalb seien so alte Volks­kalender relativ selten erhalten, selbst wenn sie damals riesige Auflagen hatten, erklärt Meret Fehlmann: «In Süddeutschland kursierten Kalender in Auflagen von bis zu 100'000 Exemplaren. Die Sammler haben erst spät gemerkt, dass diese Massenprodukte aufgrund der schlechten Überlieferungslage grössere Raritäten werden könnten als manch sorgfältig aufbewahrtes Buch aus jener Zeit.» Deshalb seien immer wieder Sammler und Bibliotheken an gut erhaltenen Exemplaren interessiert, um ihre Bestandeslücken zu stopfen – doch dieser Markt sei wohl sehr klein, sagt Meret Fehlmann. «Hefte in schlechtem Zustand sind in der Regel ohnehin nicht viel wert, aus­ser sie tragen die Notizen oder das Exlibris einer bekannten Person.»

Ihr Rat an die Besitzer ist daher: «Vielleicht hat ja eine grosse Bibliothek, ein Museum oder ein Antiquariat Interesse. Und sonst freuen Sie sich einfach selbst daran. Ins Altpapier gehören diese Hefte auf keinen Fall.»

Der Boom zieht Kopisten an
Die im Stammertal gefundenen Hefte dokumentieren die Frühzeit der Volksmedien. Ab etwa 1830 wurde der Kalenderwald plötzlich dichter – immer mehr Menschen konnten lesen, und die Erfindung der dampfbetriebenen Schnellpresse hatte die Druckkosten gesenkt. Gleichzeitig setzte sich allmählich die Pressefreiheit durch. Überall entstanden Druckereien, deren Inhaber zugleich Handwerker, Verleger und Verfasser waren – die 1864 gegründete «Andelfinger Zeitung» ist selbst ein gutes Beispiel für dieses neue Unternehmertum. Für diese Betriebe waren Volkskalender eine gute Geldquelle, günstig in der Herstellung und profitabel dank grosser Auflagen.

Besonders schlank lief die Produk­tion, wenn die Druckereien gratis und ohne viel Eigenleistung an den Inhalt kamen. Und in der Tat: Manche der typischen Geschichten und Beiträge in Volkskalendern tauchen immer wieder auf, selbst Jahrzehnte später, sogar in ganz anderen Weltgegenden und in andere Sprachen übersetzt.

«Man kann das Recycling oder Plagiat nennen – es war jedenfalls eine übliche Praxis, bei den Texten genauso wie bei den Illu­strationen», erklärt Meret Fehlmann. Das Bewusstsein für Urheberrechte kam erst später im 19. Jahrhundert auf. Volks­kalender waren oft komplette Raubdrucke, oder ihr Inhalt war von überall her zusammen­geklaut.

Für die Verfechter und Förderer der allgemeinen Volksbildung waren diese Kalender ein hervorragendes Medium. Darum engagierten sich auch Bildungsträger und bekannte Persönlichkeiten als Herausgeber und Autoren, unter ihnen Pfarrer, Ärzte, Lehrer und Schriftsteller. So prägte etwa Albert Bitzius, besser bekannt als Jeremias Gotthelf, den von ihm mitgegründeten Neuen Berner Kalender ab 1840 fünf Jahre lang als Redaktor und Verfasser.

Bunter Mix fĂĽr Jung und Alt
Inhaltlich waren die Volkskalender ein bunter Mix für die ganze Familie, der auch für Heiterkeit sorgte, etwa mit Witzen, Gedichten und Liedern. Die Herausgeber zielten in der Regel nur vage auf ein bestimmtes Publikum, beispielsweise auf Haushalte mit Interesse an moderner Wissenschaft, oder ab 1900 auf die Lebensumstände von Arbeiter­familien. «Andererseits waren viele Schweizer Kalender entschieden wertkonservativ und christlich ausgerichtet, und das konfessionell klar abgegrenzt: entweder katholisch oder reformiert», sagt Meret Fehlmann.

Regionale Perlen aus der FrĂĽhzeit der Volksmedien

Schaffhausen: Drei der in Stammheim gefundenen Kalendertitel wurden in Schaffhausen fĂĽr ein lokales Publikum gedruckt und lassen Interessantes entdecken.

Laut dem Schaffhauser Staatsarchiv ist just der «Stammheimer Fund» praktisch nicht erforscht: «Eine geschichtliche Zusammenstellung über die Zeitungen und Druckereien der fraglichen Zeit findet sich in der Literatur leider nicht.» Alle Hefte sind aber in den Schaffhauser Bibliotheken und Archiven vorhanden. Angefangen beim «Pilger aus Schaffhausen» der Jahre 1849, 1914, 1916 und 1920. In der 1849-er Ausgabe gab Drucker J.F. Schalch auf vier Seiten konkrete Tipps für alle, die ans Auswandern nach Amerika dachten, zuallererst: «Wer nicht gerne und strenge arbeiten mag (…) befindet sich dort in einer weit schlimmeren Lage als in Europa». Er beruft sich auf Berichte ausgewanderter Schaffhauser.

Es folgen unterhaltsam-bildende Geschichten, die teils auf historischen Ereignissen beruhen («Wie ein Postillon Erzherzogin wird»; «Der Schiffbruch des Dampfbootes ‹der President›»; «Die Feier des Osterfestes in Russland»), und «erprobte Mittel» in Haus und Hof gegen Ratten, Motten, Flöhe, störrische Kühe und schmutzige Hemdkragen. Die Illustrationen bestehen noch aus wenigen Stichen, fast alle signiert mit «Spalinger».

Die Ausgabe von 1914 hingegen enthält bereits viele Fotos und Inserate von Schaffhauser Geschäften, darunter gleich mehrere von Auswanderungs­agenturen. Der Balkankrieg vom Vorjahr wird analysiert, Entdecker David Livingstone und die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner werden ausführlich gewürdigt. Die Nummer 1916 bringt in der «Weltumschau» ein Foto vom Empfang der französischen Internierten am Bahnhof der Munotstadt. Die Ausgabe von 1920 hält Rückschau auf den Ersten Weltkrieg und feiert Gottfried Kellers 100. Geburtstag, unter anderem mit dem Abdruck von «Pankraz, der Schmoller». Ein Foto aus dem Notlazarett in der Zürcher Tonhalle bringt die damalige Pandemie, die Spanische Grippe, ins Blatt. Und in Amerika sei soeben «etwas Seltsames geschehen» – gemeint ist die Prohibition, die bis 1933 dauern sollte. Viel Platz bekommt ein Historiker für den «Imthurn- oder Büsinger-Handel (1693 – 1699)».

«Der Schweizerische Volksfreund auf das Jahr 1850» aus dem Hause Murbach und Gelzer thematisiert in der Vorrede sogar die Absichten und Sachzwänge hinter seiner Textauswahl und lässt durchscheinen, dass sein Kalender auch in anderen Kantonen und gar in Deutschland gelesen werde (diese Seite ist online nachzulesen). Er erzählt Abschreckendes aus Amerika (sein Rat: «Lappi thu d'Auge uf!»), und wie alle damaligen Massenmedien spekuliert er über die kürzlich verschwundene Arktisexpedition John Franklins. Die Storys von Kindsmörderinnen, Schiffskatastrophen und voreilig begrabenen Scheintoten sorgten für Gänsehaut, besonders wenn sie eine der mit «Spalinger» signierten Illustrationen trugen – der gleiche Künstler wie im «Pilger» vom Vorjahr.

«Der lustige Schweizer auf das Jahr 1861» aus der Ziegler'schen Buchdruckerei ist ein eher nüchtern-nützliches Werk, aufgelockert mit Texten, die etwas mehr Bildung voraussetzen. Auffällig sind die vielen Tabellen für europäische Masse und Währungen – der Franken war erst 1850 eingeführt worden und musste umgerechnet werden, etwa gegen süddeutsche Gulden und Brabanter Taler. Zuhinterst stehen die Einmal-Eins-Pyramide und – den modern-aufgeklärten Eindruck aus heutiger Sicht relativierend  – eine ganze Seite Anleitung zum richtigen Aderlass. (sm)

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