Weinland

Die Spitex hilft auch bei psychischen Krisen

Die Spitex betreut nicht nur betagte, kranke oder verunfallte Menschen, sondern hilft auch bei psychischen Krisen und Erkrankungen. Seit der Pandemie seien diese Fachkräfte immer mehr gefordert, sagt Teamleiterin Susanne Hübscher.

von Silvia Müller
25. Oktober 2022

Die Spitex Wyland AG startete im Januar 2019 mit 31 Mitarbeitenden für 18 Vollzeitstellen. Die Organisation leistet die ambulante Pflege und Betreuung in Adlikon, Andelfingen, Humlikon, Klein­andelfingen, Ossingen, Stammheim und Thalheim an der Thur. Und sie ist gefragt: In den weniger als vier Jahren wurden daraus 65 Mitarbeitende für 38 Vollzeitstellen.

Inzwischen sind drei dieser Fachkräfte auf psychosoziale Unterstützung spezialisiert. Seit Jahresbeginn leitet Susanne Hübscher diesen Einsatzbereich und baut ihn aus; zuvor arbeitete sie in unterschiedlichen Institutionen im stationären Bereich.

Auch die anderen vier Spitexorganisationen im Weinland bieten psychosoziale Hilfe an – wichtig zu wissen, da die Spitex nicht frei gewählt werden kann, sondern vom Wohnort abhängt. Wie für alle Einsätze braucht die Spitex zudem eine ärztliche Verordnung, um tätig werden zu können.

Extrem gewachsen durch Pandemie
Susanne Hübschers Arbeitsort ist der Hauptstützpunkt der Spitex Wyland in der Obermühle Andelfingen. Dort sei schubweise viel los, erklärt sie auf der Schwelle. An uns vorbei gehen Pflegekräfte in Berufskleidern rein und raus. In der Obermühle laufen die Fäden zusammen. Die Mitarbeitenden kommen täglich zur Materialausgabe oder für Sitzungen. Einzig die Crew im Stammertal arbeitet vom eigenen, kleineren Stützpunkt in Oberstammheim aus.

Die gestiegene Nachfrage hänge direkt mit der Pandemie zusammen, sagt Susanne Hübscher. «Wer konnte, hat den geplanten Eintritt ins Altersheim verschoben, als dort plötzlich rigorose Besuchsregelungen galten. Und nun wollen viele so lange wie möglich bei dieser Lösung mit der Spitex bleiben.»  

Gleichzeitig seien die Mitarbeitenden in der Pandemie mit massiv mehr psychischen Problemen konfrontiert worden. «Wenn sie im Pflegedienst oder beim Liefern von Mahlzeiten merken, dass es jemandem psychisch schlecht geht, melden sie das weiter, damit wir spezialisierte Hilfe anbieten können», erklärt Susanne Hübscher.

Die Nachfrage nach psychosozialer Unterstützung sei seither nicht mehr kleiner geworden. «Die extremen Einschränkungen und Ängste aufgrund der Pandemie sind zwar vorerst vorbei, doch der Ukraine-Krieg und nun die Energiekrise schüren neue.» Viele Menschen seien zurzeit wie gelähmt oder aus der Bahn geworfen, aus unterschiedlichsten Gründen. Der Bedarf an psychosozialer Unterstützung steige, und das quer durch alle Altersgruppen.

Von 18 bis 88 …
Wer Spitex sagt, denkt wohl zuerst an körperliche Pflegedienste für betagte oder chronisch kranke Menschen. «Das ist tatsächlich immer noch ein grosser Teil unserer Arbeit, aber wir decken sehr viel mehr ab. Unser ambulantes Angebot ist aufgrund der immer komplexeren Nachfrage ausgebaut worden», erklärt sie. Nun müsste dieser junge Zweig der Spitexarbeit «bloss noch allgemein bekannter werden».

Zurzeit betreue ihr Dreierteam 26 Menschen zwischen 18 und 88 Jahren. Jugendliche mit psychischen Problemen werden oft durch die Schulen oder das Zentrum Breitenstein und via ihren Hausarzt überwiesen. Als nächstes steht in Susanne Hübschers Agenda folglich die Vernetzung mit den Drehscheiben für Schicksale – RAV, Sozialämter der Gemeinden, KESB, Zentrum Breitenstein und so weiter.

Die Beratungs- und Coaching-Gespräche finden an neutralen, förderlichen Orten statt – je nach Wunsch zu Hause, beim Spazieren oder in einem Sitzungsraum. Weil psychische Probleme oft stigmatisiert würden, komme das Team diskret und in privater Kleidung.

… von Burnout bis Angststörung
Die Spitex sei eine Anlaufstelle für alle, die «froh wären um Unterstützung, aber mit ihrem Leiden in der Klinik nicht am richtigen Platz wären oder noch auf einen Platz warten», fasst Susanne Hübscher es zusammen.

Häufige Auslöser in den letzten zwei Jahren seien Depressionen, Burnouts, Ängste gewesen. Die Spitex begleite aber das Gesamtspektrum psychischer Beeinträchtigung und auch chronische Störungen. Den einschneidenden Gang in die Klinik versuche man möglichst zu vermeiden. «Nach einer umfassenden Abklärung suchen wir in der Regel Wege, damit die Betroffenen mit genügend Unterstützung von aussen in ihrer Familie funktionieren können», sagt sie. Die Ziele, das Tempo und allenfalls auch Kursänderungen richten sich nach den Bedürfnissen und Vorstellungen der Betroffenen.

… von Trennung bis Kriegstrauma
Die Spitex will dazu beitragen, dass die Menschen stabilisiert und selbständig leben können. Manchmal reichten dafür ein paar Gespräche und Inputs, manchmal stelle man sich auf eine jahrelange Begleitung ein – «wenn dies vor dem Abtauchen in einer Klinik bewahren kann, ist auch das sinnvoll.»

Was bekümmert die Menschen heute, was droht sie aus der Bahn zu werfen? Seit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg habe ganz allgemein die Angst vor der Zukunft und vor steigenden Lebenskosten zugenommen, stellen die Spitex-Mitarbeitenden fest. Und es gebe auch hier Menschen mit Verwandten und Freunden in Kriegsländern, die weder ein noch aus wüssten.

«Die Psyche ist vielschichtig. Eine Pflegerin meldete, eine alte Frau sei plötzlich ganz verändert. Es zeigte sich, dass sie den Zweiten Weltkrieg am eigenen Leib miterlebt hat und durch den Ukraine-Krieg re­traumatisiert worden ist.» Am Andelfinger Jahrmarkt ist Susanne Hübscher am Spitex-Stand anzutreffen.

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