Weinland

Drei Brüder, drei Welten, eine Zeitung

Fred, Paul und Walter Keller verstreuten sich gleich nach der Lehre über den Globus. Beim ersten Treffen seit sieben Jahren erzählten sie von den Vorteilen des Internets – und warum sie sich trotzdem noch die Andelfinger Zeitung per Post nachsenden.

von Silvia Müller
14. November 2023

Elise Keller blieb bis ins hohe Alter eine rüstige Frau. Sie lebte bis zuletzt alleine im ehemaligen Bauernhaus im Ossinger Mitteldorf, wo sie ihre vier Söhne aufgezogen hatte: Paul (geboren 1943), Willi (1944 bis 2010), Fred (1945) und Walter (1946). Die gelernte Damenschneiderin habe klare Vorstellungen gehabt, erzählten ihre drei in die Jahre gekommenen Buben kürzlich bei einem ihrer seltenen Treffen im Dorf der Kindheit: «Sie war rechtschaffen und bibelfest. Wir alle durften erst in die weite Welt ziehen, nachdem wir einen guten Beruf gelernt hatten!»

Walter: In den Forst statt aufs Meer
Besonders der Jüngste, Walter, hätte am liebsten gleich nach der Sek auf einem Schiff angeheuert, musste aber zuerst Forstwart lernen. «Im Nachhinein muss ich sagen: Unsere Mutter hatte recht, aber wie!», erzählte er. Denn später packte ihn der Wald weit mehr als das Meer. «1967, gleich nach der Lehre, ging ich dann aber doch aufs Schiff, um in Kanada zu arbeiten.» Seine Mutter vermisste ihn und bat ihn, zurückzukommen und die zweijährige Försterschule zu besuchen. Er gab nach und bereute auch das nicht: «Danach hielt mich hier aber nichts mehr. Eine Woche nach der Diplomübergabe kehrte ich an Bord der MS Michelangelo nach Kanada zurück, wo ich Karriere in der Waldbrandbekämpfung machte.»

Dafür musste er den Pilotenschein machen; während vielen Jahren gehörte zum Fuhrpark hinter seinem einsam gelegenen Haus ein einmotoriges Flugzeug. Bis zur Einschulung der Kinder 1986 lebte er mit seiner Familie in Kanada. Zurück in der Schweiz gründete er eine der ersten Firmen für Blockhausbauten. 1999 wanderte er erneut nach Kanada aus und arbeitete für eine Stiftung, die Indianer dabei unterstützte, mit dem Material der Umgebung Häuser nach ihren Vorstellungen zu bauen.

Heute sind Walter Keller und seine zweite Frau renommierte Holzschnitzer mit vollen Auftragsbüchern – das mache ihm Freude und sei ein willkommener Zustupf zur kanadischen Minimalrente. Ihre Website zeigt Bilder von einem kreativen Leben auf einer Waldlichtung, wo sieben Monate im Jahr Schnee liegt. Ihre Werke mit naturalistischen und indianischen Motiven werden von reichen Landhausbesitzern, aber auch von Communities der First Nations bestellt (AZ vom 27.9.2011).

Paul: Berufsstart in SĂĽdafrika
Der älteste Bruder Paul machte eine Lehre als Radioelektriker und Elektromechaniker, studierte Elektrotechnik und gründete mit zwei anderen in Südafrika eine Firma für Flugzeugelektronik. Nach drei Jahren lockte ihn eine leitende Stelle beim Eidgenössischen Starkstrominspektorat (Esti) in Fehraltorf zurück. Er wurde in Ossingen sesshaft, in der Nähe der Mutter und des Bruders Willi. «Man muss irgendwann sagen ‹So, jetzt gehe ich›, wie ich vor Südafrika. Ich habe aber auch die Rückkehr nie bereut. An dieser Arbeitsstelle hatte ich alle Freiheiten und interessante Kunden», sagte Paul. «Das Esti hat die Verantwortung für die grössten und spannendsten Bauvor­haben in der ganzen Schweiz: Ich betreute und kontrollierte die Starkstrom­anlagen von Elektrizitätswerken, Industrie- und Militäranlagen, Transportnetzen, des Atomkraftwerks Mühleberg, der Rheinschifffahrt und viele mehr.»

Willi war ein Zeitenreisender
Der Zweitgeborene, Willi, hatte als Einziger nie echtes Fernweh. Sein Erst­beruf war das KV, dann machte er die Matur, schloss ein Geschichtsstudium ab und arbeitete in verschiedenen Branchen in leitenden Positionen. Willi war gesellig und offen und konnte auf jede Frage zur Dorfgeschichte antworten.

Er wanderte nie aus, doch mit ihm durch sein Heimatdorf zu spazieren, war wie eine Zeitreise. Er wusste von fast jedem Gebäude und seinen einstigen Bewohnern Spannendes zu erzählen. «Ihn interessierte alles, aber er reiste ungern. Wenn wir eine Reise planten, las er vorher so viele Bücher über unser Ziel, bis er gar nicht mehr hin wollte – er kenne jetzt ja schon alles», erzählte seine Witwe Christine und lachte.

Fred begann als Uhrmacher
Bleibt der Zweitjüngste, Fred: Er lernte Uhrmacher, begann nach der RS in einer Uhrenmanufaktur in Neuenburg und wurde vom Arbeitgeber schon mit 22 Jahren in eine Niederlassung in Kansas City gesandt. Geplant waren drei Jahre in den USA, doch es kam anders: «Damals begann der Digital­uhrenboom, alle trugen eine Swatch … ich suchte nach einer besseren Perspektive, bildete mich weiter und studierte Literatur und Geisteswissenschaften.» Diese Fächer unterrichtete er danach an Colleges in den USA, und bis vor zwei Jahren arbeitete er als diplomierter Übersetzer in vier Sprachen.

Fred Kellers Wirkungsort gab jeweils seine Frau vor, eine von den Philippinen stammende Physikprofessorin. «Während unseres Berufslebens reisten wir ihren Lehrstühlen nach. Heute leben wir im sonnigen Florida», erzählte er.

Erstmals nach sieben Jahren trafen sich Ende Oktober wieder alle drei in Ossingen, wo die Schwägerin und weitere Verwandte und natürlich Schweizer Freunde und Bekannte getroffen werden konnten. Am Kaffeetisch bei Christine Keller beschlossen sie, dass diese Treffen aus naheliegenden Gründen nun etwas häufiger stattfinden sollten. Kanada oder Florida? Sie einigten sich provisorisch auf Kanada, in zwei Jahren.

Bis dann halten sie wie gewohnt auf elektronischen Kanälen Kontakt. «Wir stellen regelmässig alle paar Tage Fotos und News in den Chat. Früher hörten wir manchmal monatelang nichts voneinander.» Die moderne Technik sei ein Segen – Kanada, Florida und Ossingen seien in die Nähe gerückt. Sie erzählten lachend Anekdoten aus Zeiten, als interkontinentale Telefongespräche noch von der Vermittlung aufgebaut werden mussten, ein Vermögen kosteten – und mit den schwerhörigen Grosseltern am anderen Ende trotzdem nur zu Missverständnissen führten, weil die Übertragung immer drei Sekunden stockte.

Handverlesen und zum Anfassen
Auf eine schön altmodische Geste der Verbundenheit wollen sie trotz ihrer Freude am Internet nicht verzichten: auf die gemeinsam gelesene Papierausgabe der «Andelfinger Zeitung». Und das geht so: Christine hat für Fred in Florida ein Geschenkabo gekauft und erneuert es jedes Jahr. Alle zwei Wochen trifft in Florida ein Couvert mit den vier neuesten Ausgaben ein. «Beim Lesen schneide ich alle Artikel aus, die auch Walter interessieren könnten. Die fliegen dann in einem Couvert weiter nach Kanada», erzählte Fred.

Die «Andelfinger Zeitung» gibts auch digital, das wissen alle drei. Doch das Papier bedeutet ihnen viel: Es ist ein gegenseitiges Zeichen der Erinnerung, ein Geschenk zum Anfassen. «Mir gefällt der Gedanke, dass es von Christine kommt und dass Fred beim Auswählen an mich gedacht hat. Ich habe volles Vertrauen, dass die fehlenden Seiten mich gar nicht interessiert hätten», sagte Walter und lachte. «Kommt bloss nicht auf die Idee, mir stattdessen PDFs zu mailen! In Kanada braucht man Zeitungspapier zum Anfeuern.»

Ossingen war klein, aber voller Leben

Immer, wenn Fred und Walter Keller ins Dorf ihrer Kindheit zurückkehren, staunen sie über die Veränderungen – das Dorf sei mit nur 450 Einwohnern belebter gewesen als heute mit knapp 2000. In vielen Häusern gab es Gewerbe und ratternde Maschinen. In der Schmitte wurden auch Pferde beschlagen, und vor der Zehntenscheune standen die «Härd­öpfel­dampfi» für Tierfutter, die «Schnaps­brenni» und die «Tröschi». Beizen gab es viel mehr als heute, und im «Rössli» wurde getanzt. «Die ganze Schweiz hat sich enorm verändert. Der Verkehr und Stress sind heute gross, und die Häuser sind alle Hänge und Berge hochgekrochen», sagt Walter Keller. «Ich bin gern zu Besuch, aber man sieht hier die Sterne nicht mehr. (sm)

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