Weinland

Ein Kämpfer durch und durch

In Romanform lässt Peter Gisler nicht nur die eigene Familiengeschichte aufleben, sondern behandelt auch einschneidende gesellschaftliche Probleme: Behinderung, Verdingung und Ausgrenzung.

von Christina Schaffner
29. Dezember 2020

Der Vater von Peter Gisler hatte es nicht leicht im Leben. Als Säugling an Kinderlähmung erkrankt, hatte er ein kürzeres Bein und einen Spitzfuss. Von Gleichaltrigen wurde Fredi Gisler als «Hinkebein» verspottet, von Erwachsenen als gebrechlich eingestuft. Die Familie war von Armut betroffen. Fredi Gislers Vater starb, als er noch ein Kind war. Der neue Mann seiner Mutter akzeptierte weder ihn noch seine Brüder. So wurden alle drei als Verdingbuben zu Bauern in Flaach gegeben.

Die Erlebnisse von Vater Fredi Gisler aus dieser Zeit bei einem groben Bauern und seine schwierige, stets kämpferische Lebensgeschichte hat Sohn Peter Gisler in einem Buch zusammengefasst. Berührend zu lesen, wie sich der von vielen Menschen verachtete Fredi Gisler für seine Unabhängigkeit einsetzt und beweist, wie hart er trotz Behinderung arbeiten kann. Dazu sein unstillbarer Freiheitsdrang, der ihn mit dem Velo durch ganz Europa führt.

1000 Seiten Familienchronik
Über Jahrzehnte trug der in Rafz wohnende Peter Gisler die Familiengeschichte zusammen. Anstoss war ein Vater-Sohn-Konflikt im Jahr 1986. Damals begann der Vater «erstmals über die Verdingung, die Armut und schlechte Behandlung zu reden, während er früher nur von Bubenstreichen erzählt hatte», berichtet Peter Gisler. Diesen auf Tonband festgehaltenen Worten folgten weitere Interviews mit anderen Familienmitgliedern und Zeitzeugen.

Eine tausend Seiten dicke Familienchronik entstand daraus im Jahr 2009, als Peter Gisler dafür Zeit fand. Zu­sammen mit einer Schreibcoachin unternahm er Schreibversuche und entschloss sich, ein Buch daraus zu machen: «Weil das Thema und die Geschichte stellvertretend sind für viele andere Lebensläufe und auch ein Jahrhundert Schweizer Sozialgeschichte darstellen», so der Autor. Nach Jahren des Kürzens und Umschreibens liegt das Buch seit November im Buchhandel: «Was bleibt – was geht».

Fremde Briefwechsel lesen
Die Auseinandersetzung mit dem Leben des Vaters sei spannend, intensiv, aber auch emotional und anstrengend gewesen – auch, weil es um die eigene Geschichte ging. Fremde Briefwechsel zu lesen war dabei wie ein Panoptikum, erzählt Peter Gisler: «Da tauchten so viele gesellschaftliche und politische Dinge auf, wie ich es nie erwartet hätte – Einblicke in Beziehungen, die Kriegszeit in der Schweiz, der häusliche Alltag.» Und er entdeckte bei sich Gefühle, die seine Eltern erlebt hatten und die er zuvor nicht zuordnen konnte.

Für sein Buch bekam er bereits sehr viele positive Rückmeldungen, was ihn nicht nur freut, sondern auch ermutigt, weiter zu schreiben: «An was auch immer…».

Peter Gisler: «Was bleibt – was geht. Von einem, der sein Leben ständig neu erfindet». Stämpfli Verlag, ISBN 9783727260681

Peter Gisler hat die Biographie seines Vaters rekonstruiert.
Peter Gisler hat die Biographie seines Vaters rekonstruiert. / Christina Schaffner

«Die Verdingung war der Gipfel der Entwertung»

Peter Gisler, war für Ihren Vater die Zeit als Verdingbub die schlimmste seines Lebens? Hat er noch eine Entschädigung bekommen?
Peter Gisler: Schlimm war schon vor der Verdingung die Behinderung durch die Kinderlähmung – er war schon als Säugling infiziert worden. Dies setzte ihn als Kind und später eben auch als Verdingkind dem Spott der anderen aus. Ein zweiter Aspekt war die Armut, für die sich die ganze Familie schämte. Die Verdingung war dann der Gipfel der Entwertung.

Mein Vater starb 2004. Die politische Auseinandersetzung, die Volksinitiative, der runde Tisch – das war alles viel später. Da war also auch keine Entschädigung für ihn. Ob er sie angenommen hätte? Er suchte vor allem Anerkennung, wollte dazugehören, jemand sein, ernst genommen werden.

Was hat das Schreiben bei Ihnen ausgelöst?
Über die transgenerationale Übertragung von Traumata hat man spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust begonnen, sich Gedanken zu machen. Heute geht die neueste Forschung unter anderem gar von epigenetischer Übertragung aus.

Das dominierende Lebensgefühl beider Elternteile in meiner Familie war, nicht dazuzugehören. Zur Gesellschaft, zur Gemeinschaft, zum Dorf ... Zu diesem Gefühl gehört der Eindruck, fremdbestimmt zu sein, herumgeschoben zu werden von «denen da oben», den Behörden, der Regierung. Darum war der Kampf um Unabhängigkeit so wichtig.

Das Schreiben, die damit verbundene Auseinandersetzung stösst einen nun auf Zusammenhänge, die sonst allenfalls in einer Therapie durchschaubar würden. Dasselbe Lebensgefühl des Nichtdazugehörens hat mich selbst früh erfasst. Allerdings war es lange nicht greifbar, eher unbewusst, und als ich es allmählich erkannte und verstand, gab es anfänglich kaum einleuchtende Erklärungen dafür. So verhält es sich auch mit anderen Gefühlen wie Scham und Trauer. Irgendwann, es ist noch nicht allzu lange her, habe ich begriffen, dass ich diese Emotionen für meine Eltern «abzuarbeiten» habe. Sie selbst mussten für ihr Überleben kämpfen, Gefühle konnten sie sich nicht leisten und haben sie verdrängt.

Haben Sie einen Wunsch, was Ihr Buch bewirken könnte?
Ein Buch kann die Welt nicht verändern, auch eine kleine nicht ... und das erwarte ich auch nicht. Wenn aber Leserinnen und Leser spüren, dass die Hintergründe, die zeitgenössischen Geisteshaltungen – die Eugenik beispielsweise –, die zum oft schlimmen Umgang mit Verdingkindern geführt haben, nicht einfach Vergangenheit sind und vergessen werden können, werden neue Fragen möglich. Zum Beispiel: Wie gehen wir heute mit Machtlosen, mit Andersartigen und Fremden um? Wenn das bei den einen oder anderen gelingt, bin ich zufrieden.
Interview: Christina Schaffner

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