Weinland

Eine Brücke, die entzweit

Um den durchgehenden Fussweg zur Eisenbahnbrücke wird gestritten.

von Silvia Müller
20. Oktober 2020

Seit 1875 ist die Fachwerkbrücke über die Thur Ossingens Stolz. Wikipedia adelt sie zur «bedeutendsten in der Schweiz noch erhaltenen Gitterbrücke mit eisernen Pfeilern». Mit Besuchern spazieren die Ossinger gerne über die 42 Meter über den Fluss ragende Konstruktion. Dort warten das Abenteuer, die Alpensicht und das Unbehagen beim Blick nach unten.

Die Brücke ist zugleich der kürzeste Weg ans südliche Thurufer. Deshalb schieben regelmässig Velofahrer ihr Fahrzeug über die Steinplatten des Fussgängerstegs. Wer nicht schwindelfrei ist, muss für diese 332 Meter sehr lange Umwege in Kauf nehmen: Rund 5,5 Kilometer über die Brücke in Gütighausen oder gar 7,5 Kilometer über die A4-Brücke bei Andelfingen.

Doch seit die SBB das Bahnwärterhäuschen verkauft hat, ist die Stimmung getrübt. Der Zugangspfad zur Brücke verläuft ein paar Meter auf der verkauften Parzelle. Die neuen Besitzer haben den seit 145 Jahren von der Öffentlichkeit mitgenutzten Bahnwärterweg während der Umbauarbeiten an ihrem Haus mehrmals gesperrt. Die Passanten konnten die schwarz gestrichelte Passage (Karte unten) nicht mehr nutzen und wurden zu einem Umweg gezwungen. Auf dem Parkplatz am Waldrand ist dieser schon lange als offizieller Zugang zur Brücke signalisiert. Doch wer zu Fuss von Ossingen herkam, machte nie freiwillig den dreimal längeren Umweg entlang der gefährlichen Kantonsstrasse (die langen Strecken zwischen den roten Punkten).

Passiver und aktiver Widerstand
Der Ärger im Dorf über den plötzlichen Entzug eines – aus juristischer Sicht zu Unrecht – als legitim empfundenen Durchgangs war gross. Die meisten foutierten sich still um die Abschrankungen und kletterten darüber. Mehrmals verschwanden die lästigen Baustellensicherungen wie von Geisterhand. Offiziell gewehrt haben sich nur Peter und Hanni Sigg. Ihnen gehört das Landwirtschaftsland östlich des Grundstücks, sie sind also als einzige direkt betroffen. Deshalb verstehen sie ihr Vorgehen als Chance, zu einer Lösung beizutragen, die auch der Öffentlichkeit nützt.

Zunächst wandten sie sich teilweise mehrfach an die Gemeinde, die SBB und die Eigentümer. Sie machten das Angebot, einen deutlich kürzeren Umweg über ihr Land zu ermöglichen, doch die Gemeinde lehnte ab.

Als nichts mehr ging, schrieben Hanni und Peter Sigg einen Leserbrief in der «Andelfinger Zeitung» vom 25. September. Sie betonten darin die regionale Bedeutung des Wegs und bedauerten, dass quasi unter der Hand Tatsachen geschaffen wurden, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. «Wir staunten über das enorme, ermutigende Echo. Auch Leute von der anderen Thurseite meldeten sich, um zu danken», sagt Hanni Sigg.

Komplizierter und einfacher zugleich
In den letzten Monaten ist zwischen den Beteiligten eine komplizierte Korrespondenz zusammengekommen. Zuletzt auch mit der Schreibenden dieses Beitrags: Auf direkte Nachfrage der «AZ» wollte anfänglich anscheinend gar niemand den Weg endgültig schliessen. Inzwischen haben sich die Parteien aber auf eine Druckversion geeinigt.

Angefangen bei den Eigentümern: «Das war nie ein offizieller Weg. Trotzdem hatten wir nichts gegen Fussgänger», sagt Andreas Hofmann. Im Gegenteil, sie hätten schon viele gute Begegnungen erlebt. «Der Kaufvertrag mit der SBB sieht aus Sicherheitsgründen gar einen Zaun vor, der den Pfad unterbricht, doch das möchten wir eigentlich selbst nicht.» Die «Kampf­biker» seien aber tatsächlich ein Problem, seine Frau sei beim Gärtnern angefahren worden. Vandalismus, Mülldeponien und Velofahrer im Sattel: Dagegen wollen sie sich wehren. «Fussgänger würden wir auch in Zukunft durchlassen.»

Die Eigentümer teilen jedoch die Ansicht, dass Klarheit für die Passanten geschaffen werden müsse, nur schon aus Haftungsgründen. Und sie wünschen ein Velohindernis, um Raser auszubremsen. «Mit dem beschlossenen Aufstellen von Sackgassenschildern und Wegweisern ist ein wichtiger Schritt zur Beruhigung der Situation getan. Heute wissen Passanten gar nicht, dass sie sich im Gefahrenbereich der Bahn bewegen, und glauben, das Wärterhaus und sein Garten seien öffentliches Areal.»

Gemeindeschreiber Sven Fehse fasst die langen Verhandlungen und ihr Resultat kurz und bündig zusammen: «Der Weg und die Böschung gehören der SBB. Diese möchte den unbewilligten Weg schliessen, da dieser den Sicherheitsvorschriften der SBB nicht entspricht.» Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, sei auf Vorschlag der SBB eine neue Beschilderung vereinbart worden, welche demnächst umgesetzt werde. Die Wegmarkierung sei dann vollständig vorhanden und für alle klar sichtbar. SBB-Sprecher Daniele Pallecchi stützt die Aussagen der Gemeinde und bekräftigt, die Sicherheit der Fussgänger stehe an oberster Stelle.

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