«Er kann alles, was zur Familie passt»

Ossingen - Wie so viele Burschen liebt Wanja Sport, körperliche Arbeit und Gamen. Dem 19-Jährigen mit Down-Syndrom fällt zwar nicht alles gleich leicht wie seinen Gleichaltrigen. Dafür kann er vieles sogar ausgesprochen gut.

Silvia MĂĽller (sm) Publiziert: 18. März 2022
Lesezeit: 5 min

Trotz Sonnenschein ist es kühl an diesem Märzmorgen. Wanja scheint das egal. Er bedient im Leibchen die Spaltmaschine vor der Werkstatt der «Stiftung Langeneggerhaus für Behinderte». Einen nach dem anderen holt er die bereits halbierten «Rugel» aus der Paloxe links und platziert sie unter dem Spaltkeil. Konzentriert und vorschriftsgemäss legt er beide Hände an die Griffe und lässt die Klinge runter. Wenn nötig, reisst er eigenhändig kraftvoll die letzten Holzfasern auseinander. Mit Schwung wirft er die Brennholzscheite in die Paloxe rechts von ihm.

«Das gibt Muskeln», sagt er und beweist der Journalistin lachend, dass er «Muckis» hat, «nicht Pudding». Sein Betreuer behält uns diskret im Auge, lässt Wanja aber im eigenen Takt schalten und walten. Für die anspruchsvolle Arbeit an der Spaltmaschine kommen zurzeit nur vier der Klientinnen und Klienten des Langeneggerhauses infrage. Drei von ihnen wohnen auch dort. Wanja nicht. Er lebt mit seiner Familie im Stammertal und kommt jeden Tag nach Ossingen zur Arbeit.

Arbeit ist mehr als Beschäftigung
Seinen Arbeitslohn holt Wanja jeden Monat persönlich im Büro von Langeneggerhaus-Leiter Igor Bär ab. Jeden Montag und Mittwoch geht er alleine in den Dorfladen und leistet sich vom eigenen Geld ein Sandwich und ein Rivella. Und auch am Stammer Markt erfüllt er sich immer ein paar Wünsche.

Wanja strahlt zufrieden. Die Paloxe rechts ist schon bald wieder voll. Er mache alle Brennholzarbeiten gern, sagt er: Das Ablängen an der Fräse, das Spalten und das Aufbeigen. Besonders beliebt sei auch die Heimlieferung bei den Kunden, erzählt mir später Igor Bär – das sei für das Holzteam wie ein Ausflug, bei dem sie oft Zvieri oder Trinkgeld bekämen. «Das Holzen ist ein begehrter Job. Der Kontakt mit den Kunden gefällt dem Team. Und ihr Stolz, etwas Nützliches zu machen, ist gross. Hierin liegt übrigens der wesentliche Unterschied zwischen Arbeit und Beschäftigung.»

Für die Stiftung sei der 2010 abgeschlossene Vertrag mit der Gemeinde deshalb «grossartig», sagt Igor Bär: Der Forst kann einen Teil der unrentablen Holzaufbereitung abgeben. Im Langeneggerhaus wird daraus sinnvolle Arbeit, die so lange dauern darf, wie sie halt dauert. «Wir haben mit 8 Ster angefangen. Nun sind wir bei 100 Ster pro Jahr und an unserem Limit angelangt.»

«Er konnte als Mittelkind profitieren»
Doch zurück zu Wanja an der Spaltmaschine. Seine Mutter stösst zu uns. Der Teenie lässt sich auch von ihr keine Jacke aufschwatzen – vermutlich findet er zu Recht, dass sein T-Shirt besser aussieht. Wir setzen uns etwas abseits an die Sonne und lassen ihn arbeiten.

Wanja habe eine fünf Jahre ältere und eine ein Jahr jüngere Schwester ohne Down-Syndrom, erzählt sie. Er sei wie die meisten Mittelkinder «einfach immer mitgenommen worden, ohne Sonderstatus». Was die Schwestern wollten und konnten, wollte und konnte er irgendwann auch – nur nicht so schnell wie sie. «Bei Kindern mit Down-Syndrom geht alles langsamer, jeder Entwicklungsschritt dauert länger. Für die Eltern heisst das: Es braucht von allem immer ein bisschen mehr», sagt die Mutter.

Ihre Familie kenne es nicht anders. «Wanja hat uns von Anfang an entschleunigt, er lässt sich nicht hetzen», erzählt sie und lächelt zufrieden. «Wir haben immer weiter Neues probiert, ihn überallhin mitgenommen und gemerkt, dass das Meiste geht – halt in seinem Tempo.» Bei ihm sei so «extrem viel möglich geworden», sagt sie und ruft ihn her, damit er seine Hobbies aufzählen kann. «Er kann heute so ziemlich alles, was genau zu unserer Familie passt.»

Ein Schaffer und Sportler
Wanja ist voll eingespannt, auch zu Hause. «Am Samstag muss ich die Esel misten und dem Vater bei den Schafen helfen», erzählt er. Er geht mit seinem Vater ins Fitnesscenter, fährt Ski und Velo, geht jeden Sommer ins Fussballlager, liebt Bowling und Pingpong. Seine Omi besucht er regelmässig zum Jassen, und seiner Gotte zeigt er jeden Mittwoch in der Badmintonhalle den Meister. «Es hat sich herausgestellt, dass er in allen Ballsportarten sackstark ist», sagt die Mutter.

Wanja kenne auch alle Buchstaben und Zahlen und könne einfache Rechnungen lösen, wenn es um Konkretes wie Sackgeld gehe, sagt sie. «Solche Dinge machen ihm aber keine besondere Freude.» Aber er male gerne Mandalas und spiele gut Blockflöte. «Radio hören und Gamen tue ich aber auch viel», stellt er klar. Und: Am liebsten sei er mit seinem Schatz zusammen. Die beiden kennen sich von der Heilpädagogischen Schule Humlikon. «Menschen mit Down-Syndrom sind extrem ‹gspürig› und sensibel, und sie ziehen einander damit an wie Magnete», erklärt mir seine Mutter. Manchmal merke sie, dass ihn etwas Zwischenmenschliches beschäftige, das auswärts passiert sei. Weil sein Ausdrucksvermögen begrenzt sei, brauche es in solchen Fällen oft viel behutsames Nachfragen.

Einen guten Lebensweg ebnen
Fast vergessen! Wanja kann auch gut schwimmen. Wenn er dann mal aus­ziehe, wolle er an den Bodensee zügeln, sagt er immer. Dieser Schritt liegt zwar noch etwas in der Ferne, doch wenn es soweit ist, wünschen ihm seine Eltern das Gleiche wie seinen Schwestern: «Wir hoffen, dass er seinen Platz im Leben findet, eine Arbeit und Menschen, die ihn glücklich machen.» Aber das eile überhaupt nicht. «Das Leben mit Wanja ist so bereichernd für unsere Familie.»

Am 21.3. ist Welt-Down-Syndrom-Tag

Der 21.3. ist jenen Menschen gewidmet, deren 21. Chromosom 3-fach vorhanden ist. Diese Anomalie des Erbguts beeinflusst die körperliche und geistige Entwicklung. Wie gravierend die Auswirkungen sind, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Man schätzt, dass aktuell in der Schweiz rund 5000 Menschen mit Trisomie 21 oder Down-Syndrom leben, wie diese Abweichung des Erbguts heute bezeichnet wird.

Menschen mit Down-Syndrom seien oft «sehr fitte Leute mit ausgesprochenen Talenten», sagt der Leiter der «Stiftung Langeneggerhaus für Behinderte», Igor Bär. Typisch für sie seien eine grosse Offenheit und Herzlichkeit und das Bedürfnis nach engen Beziehungen. «Sie haben ein untrügliches Gespür für die Befindlichkeiten der anderen.»

Bis in die Sechzigerjahre seien Menschen mit Down-Syndrom nur in Ausnahmefällen gefördert worden. «Das galt aber auch für beispielsweise Epileptiker, welche keine Lehre machen durften.» Man habe die Möglichkeiten dieser von der Norm abweichenden Menschen völlig unterschätzt. Die Familien wurden zudem mit der enormen Aufgabe alleine gelassen. Obwohl heute in der westlichen Welt das Alter der Gebärenden und somit das Risiko für diesen Gen­defekt markant gestiegen ist, werden seit einigen Jahren immer weniger Kinder mit Down-Syndrom geboren. Diese plötzliche Abnahme ist eindeutig eine Folge der pränatalen Diagnostik. (sm)