Grenzerfahrungen im Prachtwald

Marthalen/Rheinau - Zum Auftakt der Sommerserie 2022 laden wir zum Herumstrolchen abseits befestigter Wege: Im Niderholz können ungewöhnlich viele und unterschiedlich alte Grenzsteine entdeckt werden.

Silvia Müller (sm) Publiziert: 22. Juli 2022
Lesezeit: 4 min

Wenn wir sagen, etwas sei «in Stein gemeisselt», meinen wir: Daran gibt es nichts zu rütteln, und das gilt mindestens so lange, wie der Stein überdauert. Also lange: Einige der noch erhaltenen Grenzsteine in den Fluren und Wäldern des Weinlands stehen dort schon seit dem 17. Jahrhundert. Doch auch in den letzten 200 Jahren wurden intensiv Grenzen abgesteckt und markiert.

Thomas Specker hat wie kein anderer den Überblick. Im Auftrag der Zürcher Denkmalpflege hat der Historiker und Geograf das Inventar der Grenzsteine aktualisiert und vervollständigt. Sein Werk soll noch diesen Herbst vom Regierungsrat bestätigt werden.

Schon vor zehn Jahren begleitete die «Andelfinger Zeitung» den Wissenschaftler zu einem Grenzstein beim Radhof (AZ vom 28.9.2012, zweites Bild). Nun schlägt er für diese Sommerserie eine Entdeckungstour auf den Spuren seiner Arbeit vor. Im Niderholz seien die Markierungen besonders dicht gestellt, sagt er, teilweise alle 10 bis 20 Meter. Und das sogar dort, wo die Steilkante des Geländes selbst schon ausreichend Anhaltspunkte zum Grenzverlauf geben würde.

Dem kann die Journalistin nach dem Faktencheck im Gelände nur beistimmen: Logischer als entlang des Steilhangs am Chachberg können Grenzen kaum verlaufen. Und doch umkränzen etwa zwei Dutzend Steine das Waldplateau mit den schönen Eichen, das Rhein­au gehört. Beim Steilhang beginnt das Marthaler Gemeindegebiet. Warum machte man sich die enorme Arbeit, alle paar Meter einen behauenen Stein tief im Boden zu versenken?

Rheinau und Marthalen: Dauerstreit
Der Grund für die überaus zahlreichen Grenzsteine im Niderholz liege in der komplexen Lokalgeschichte, sagt Thomas Specker. Angefangen bei den Territorialherren: Ab dem späten Mittelalter gehörte die Gegend nacheinander zu einer habsburgischen Vogtei (dem «Amt Diessenhofen») und verschiedenen Pfandherren. 1434 kam es, als Teil der Herrschaft Kyburg, zum zürcherischen Territorium. Zürich habe diesen territorialrechtlichen Aspekt bis ins 18. Jahrhundert hinein beachtet, sagt Thomas Specker. Deshalb zeige beispielsweise der Grenzstein im Thurspitz aus dem 18. Jahrhundert immer noch die Kürzel «A» für «Landvogtei Andelfingen» (zu der Flaach gehörte) und «K» für «Landgrafschaft Kyburg».

Marthalen und Rheinau lagen vor allem in der Gegenreformation, also ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in einem Dauerkonflikt. Der Lokalhistoriker Reinhard Nägeli drückt es so aus: «Während die Marthaler als verschworene Gemeinschaft mit Widersetzlichkeit, unwillig-mühsamer Erfüllung ihrer Pflichten wie Zinsen und Zehnten, mit Holzfrevel, Überweiden und gemeinsam verübtem Betrug stritten und kämpften, hielt sich Rheinau an seine eigenen Waffen: althergebrachte Rechte, Schrift­lich­keit, juristische Positionen sowie die exakte Beschreibung und Markierung der Grenzen mit Steinen.»

Abweichende Gerichtsherrschaft
Im Niderholz bezieht sich aber so mancher Grenzstein gar nicht auf die Landesherrschaft, sondern auf die Gerichts­barkeit – und die war geografisch noch komplizierter verteilt.

So war Ellikon Teil der schaffhausischen Gerichtsherrschaft Rüdlingen-Buchberg, lag aber im Hochgerichts­bezirk Kyburg. Über geringere Verfehlungen urteilten also die Schaffhauser, über die schweren Delikte die Zürcher. Diese Überlagerungen der Rechts­gebiete mussten sorgfältig beachtet werden. Daher zeigen die Grenzsteine nördlich von Ellikon auf der Grenze zur heutigen Gemeinde Rheinau die Kürzel «E» für Ellikon und «K» für Kyburg.

Das Kloster und private Besitzer
Damit waren aber noch nicht alle Ansprüche im Niderholz in Stein gemeis­selt. «Quasi eine weitere Ebene tiefer stehen die Grundbesitzungen von Klöstern, Privaten, Gemeinden, Herren und so weiter», zählt Thomas Specker auf. Nahezu die ganze Waldfläche gehörte ursprünglich dem Kloster Rheinau. Eines dieser Stücke, genannt «Niemandholz», gehörte noch 1831 dem Kloster. Zur Markierung des Klosterbesitzes dienten teilweise ganz originell gestaltete Grenzsteine, darunter der Pfaffenkopfstein am Rhein (siehe Route 2).

Die Gemeinden entwickelten sich seit dem späten Mittelalter allmählich als (und aus) Korporationen (Nutzungsgemeinschaften). Sie legten gros­ses Gewicht auf den Erwerb von Waldflächen. Vor allem im 19. Jahrhundert wurden die Gemeindegrenzen im Wald mit zahlreichen Grenzsteinen vermarcht. «Die heutige Reihe ist mindestens so dicht gesetzt, wie das schon das Kloster im 18. Jahrhundert gemacht hatte», sagt Thomas Specker. Diese Gemeindegrenze hat aber an Gewicht verloren, seit das Forstrevier Niderholz für den gesamten Wald zuständig ist: für Jenen der Gemeinden Marthalen und Rheinau, der Winzelerkorporation und für den Staatswald, der einst dem Kloster gehörte.

Als Ensemble geschützt
Grenzsteine sind nie Einzelgänger. Sie entfalten ihre Rechtskraft nur mit Nachbarsteinen. Erst als Gruppe dokumentieren sie den Verlauf und die Winkel von Grenzlinien. Sie bilden folglich funktionell ein Ensemble und werden auch als Ganzes inventarisiert und geschützt. Einem solchen Emsemble folgt unser Wandertipp «Route 1» (unten).


Lust auf Abenteuer oder doch lieber auf Genuss? Hier gibts zwei Routen

Die Abenteuerroute entlang der Grenzsteine des Niderholzes führt nur durch wegloses Gelände, mit kurzen, steilen Passagen, umgestürzten Baumstämmen und stellenweise Dornen­gestrüpp – also nur mit Wanderschuhen und langen Hosen zu empfehlen. Wer weder Zeit noch Entdeckerlust hat, gönnt sich besser Route 2.

Im Niderholz trifft man auf frühneuzeitliche Kyburgersteine und Gemeindegrenzsteine der ehemaligen Zivilgemeinden Marthalen und Ellikon. Die Inschriften sind seit der Inventarisierung vor zehn Jahren (siehe oben) wieder von Moos überwachsen worden. Achtung: Die Grenzsteine sind denkmalgeschützt und dürfen nicht von Laien gesäubert und schon gar nicht entfernt werden! Jegliche Manipulation ist ein Strafbestand.

Wichtige Lebensgrundlage
Das Niderholz wurde jahrhundertelang vom Kloster Rheinau genutzt. Der Wald war das entscheidende Rohstoff- und Bodenreservoir. Die Tiere wurden zum Weiden ins Niderholz getrieben, und bei Bedarf wurde neues Ackerland gerodet. Das Eichenholz diente dem Kloster zum Bau von Weinfässern, Gebäuden und Brücken sowie als Heizmaterial, etwa für das Brennen der Ziegel der 1708 vollendeten Klosterkirche. Einzelne der Eichen sind über 250 Jahre alt, die Föhren etwa 200 Jahre.

In der Schweiz sind Eichen-Hagebuchen-Wälder wie im Niderholz eine Rarität; es ist daher als Wald von natio­naler Bedeutung eingestuft. Am Fuss des Niderholzes erstreckt sich zudem das Biberschutzreservat rund um den gestauten Mederbach.

Auf Wunsch der kantonalen Baudirektion dürfen hier weder die Koordinaten der Grenzsteine noch GPS-basierte Trails veröffentlicht werden. Hier also nur die rudimentäre Karte, mit der auch die Journalistin auf Recherche war. Am besten starten Sie bei der Chachberghütte bei der Höhen­angabe «395» – rund 500 Meter östlich der grossen Lichtung – und verlassen den Waldweg schon nach wenigen Metern Richtung Nordost (siehe Bild). Mit etwas Glück und Geduld finden Sie zwischen den Bäumen und der Hangkante bald den ersten Winkelgrenzstein der Reihe (1021 ff.); danach suchen Sie sinngemäss weiter und werden alle paar Minuten fündig.

Ein Tipp: Neben vielen Steinen sind Pflöcke mit roten Markierungen eingeschlagen, und etliche Bäume entlang der Gemeindegrenze sind blau markiert. Gemäss Förster Beat Gisler sind beides Schutzmassnahmen: Blau zeigt den Forstbewirtschaftern, darunter auch ortsfremden Subunternehmern, die erlaubten Rücke­gassen an. Die roten Pflöcke sollen die Marchsteine selbst vor Beschädigung durch schweres Gerät schützen.

Die Steine sind ziemlich leicht zu finden, bis der Berg im Nordosten «nach links abbiegt». Sobald die Steinreihe nach Westen weist, wird das Gelände wilder. Wesentlich Neues zum Thema werden Sie ab hier nicht entdecken, und einen bequemen Heimweg auch je länger, je weniger. Tipp des Spähtrupps: In den eigenen Spuren zurück zum Start und runter nach Ellikon – die Beiz und/oder Route 2 geniessen.

Idyllische Route 2 am Rheinufer
Von Ellikon rheinaufwärts trifft man in gemütlicher Spazierdistanz auf zwei aussergewöhnliche historische Grenzsteine. Im Strickboden, einem bezaubernden lichten Wald mit Föhren und einer Rheinsicht, die schon die Römer schätzten, steht der «Pfaffenchopfstein» (Nr. 1032). Das laut dem kantonalen Inventar wertvolle Einzelstück aus Sandstein mit höchst aussergewöhnlicher Form zeigte einst Waldgrenzen an. Das Alter ist unsicher, vermutlich wurde der Stein zwischen 1750 und 1850 gestellt. Wegen der exponierten Lage zwischen Uferpfad und Steilhang ist er durch Verwitterung und die Erosion des Steilhangs gefährdet.

Sehenswert ist auch Stein Nr. 997, an Ellikons Waldrand flussaufwärts. Der Sandstein mit Winkelgrundriss und Firstdach stammt aus der Zeit zwischen 1710 und 1810 und hat spezielle «Flügel», die keine zehn Zentimeter hoch sind, darunter ist der Winkelraum gefüllt. Es handelt sich vermutlich um einen einstigen Grenzstein zwischen Kyburg und der Gerichtsherrschaft Rüdlingen-Ellikon, der von den jüngeren Gemeinden nachträglich mit ihren Initialen «E» und «R» versehen worden ist.

Er steht immer noch auf einem Gemeindegrenzpunkt, einen Meter südöstlich von der Hangkante zur Thur, zwei Meter nordöstlich vom Waldrand, der hier eine Böschung bildet. Der Stein liegt unmittelbar neben dem Fusspfad, aber etwas versteckt unter Grünzeug. (sm)

Grenzgeschichten

Das Weinland liegt ganz am Rand des Kantons und nahe zu Deutschland. Grenzen sind demzufolge allgegenwärtig. Und sie sind Thema unserer fünfteiligen Sommerserie. (az)