Weinland

Liebe auf Zeit schenken

Eva und Emanuel Fritschi sind Eltern auf Zeit. Sie nehmen Babys bei sich auf, bis entschieden ist, wohin deren weiterer Weg führt. Eine emotionale und verantwortungsvolle Aufgabe.

von Christina Schaffner
26. Juni 2020

Die eigenen Kinder sind erwachsen und zum Teil verheiratet, Enkelkinder aber noch nicht in Sicht. Trotzdem ist das Haus von Eva und Emanuel Fritschi für die Bedürfnisse eines Babys eingerichtet: Babybett und Wickeltisch stehen bereit. Es werden Windeln gewechselt, Fläschchen gegeben, und beide sind voll und ganz für ein Neugeborenes da. Seit fünf Jahren ist das jeweils für durchschnittlich sieben Monate im Jahr Alltag der beiden über 50-Jährigen. Dann sind sie Pflegeeltern auf Zeit.

«Eine Bindung zu einem Kind aufzubauen in dem Wissen, es wieder abzugeben, ist nicht immer einfach», sagt Eva Fritschi. Es sei ein Spagat zwischen Liebe geben und sich bewusst machen, «es ist nicht dein Kind». Ist ein Kind da, sind sie Mami Evi und Papi Emanuel – mit allem, was dazu gehört. «Ein Baby zu bekommen ist sehr emotional, freudig und spannend. Wir wissen nie, was uns erwartet», sagt Eva Fritschi. Dies nicht nur, weil Babys grundsätzlich unterschiedlich sind, sondern weil diese Kinder auch gesundheitliche Probleme, zum Beispiel durch Entzug von Suchtmitteln, mitbringen können.

Einem Baby ein Daheim geben
Speziell seien auch die Reaktionen von Fremden auf sie als mittelalte Personen mit Kinderwagen. «Wir werden oft abgecheckt und nicht selten von wildfremden Menschen gefragt, ob das unser Kind sei», sagt Eva Fritschi schmunzelnd. Sie hätten jetzt ein Alter, in dem es für eigene Neugeborene eher zu spät, für Enkelkinder eher früh sei. Ihnen bereite es aber einfach viel Freude, ein kleines Wesen beim Start ins Leben zu begleiten: «Zu spüren, dass es sich wohlfühlt und dir vertraut, ist wunderbar», schwärmt Emanuel Fritschi.

War­um nehmen sie eine solch emotionale Achterbahnfahrt auf sich, an deren Ende das Abgeben des Kindes steht? «Es gibt viel Gutes, das wir als Familie erleben durften. Nun wollen wir für Kinder da sein, die schwierige Startbedingungen haben, und ihnen ein vorübergehendes Daheim geben», sagt Manuel Fritschi.

Früher wohnten Teenager bei ihnen
Bevor die beiden für die Aufnahme von Babys als Übergangspflegefamilie angefragt wurden, nahmen sie seit 2007 Teenager bei sich auf. Damals wohnten die eigenen Kinder noch zu Hause und waren wie grosse Geschwister für diese aus schwierigen Verhältnissen kommenden jungen Menschen. Die Jungen und Mädchen blieben zwischen einigen Tagen und mehreren Jahren bei ihnen. «Nach dem Auszug des letzten Teenagers wollten wir uns nicht mehr so lange binden», sagt Emanuel Fritschi rückblickend. Sie seien heute in einer anderen Lebensphase und froh über die Pausen, die sie zwischen den Babys haben. «Um uns von einem Kind auch innerlich zu verabschieden und bereit für ein neues zu sein, brauchen wir eine längere Pause», erklärt seine Frau. Dann räumt sie erst einmal alle Dinge weg und geniesst es, die Zeit wieder anders füllen zu können. «Nach jedem Kind entscheiden wir neu, ob wir diese Aufgabe weiter wahrnehmen wollen», sagt Eva Fritschi.

Während sie Eltern auf Zeit sind, kümmern sie sich aber nicht nur um die alltäglichen Bedürfnisse, sondern führen auch Tagebuch fürs Kind und erstellen ein Fotoalbum über die Zeit, die es bei ihnen verbringt. «Das ist wichtig für den weiteren Lebensweg des Kindes. Seine Geschichte ist nicht normal und natürlich. Eltern erzählen ihren Kindern, wie es war, als sie Babys waren», so das Mami auf Zeit. Berichte müssen sie zudem für die betreuenden und begleitenden Stellen schreiben: für die eingesetzte Beistandsperson, die die Schnittstelle zur Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) ist, und für die Fachberaterin des Vereins Tipiti (www.tipiti.ch), die sie bei ihrer Aufgabe berät und betreut. Wie es mit dem Kind definitiv weitergeht, entscheidet die Kesb.

Zwölf-Wochen-Frist vor Adoption
Eva und Emanuel Fritschi sind eine von derzeit 18 Übergangspflegefamilien in der Deutschschweiz, die vom Verein Tipiti begleitet werden. Frühestens sechs Wochen nach der Geburt kann die abgebende Mutter oder das Elternpaar mit ihrer Unterschrift der Adoption zustimmen. Widerrufen sie dies nicht, ist die Adoptionsfreigabe nach weiteren sechs Wochen rechtskräftig. Diese zwölfwöchige Frist sieht das Gesetz vor, da die Auseinandersetzung mit der Adoption für die leiblichen Eltern sehr emotional und ambivalent ist. Manche Mütter entscheiden sich, das Kind doch zu behalten.

Um adoptionswilligen Paaren keine Rückgabe zuzumuten, kommen die Kinder während dieser Entscheidungsfrist in die Übergangspflegefamilien. «Die Übergangspflegefamilien bieten einem Kind Sicherheit, Geborgenheit und feste Bezugspersonen, die rund um die Uhr verfügbar sind und an die es sich binden kann», sagt Andrea Rechenmacher, Fachberaterin für Übergangspflege beim Verein Tipiti. «Diese Bindung hat einen positiven Einfluss auf seine weitere Entwicklung.» Sie habe Hochachtung vor dieser Arbeit der Übergangspflegefamilien, die einem Baby, in dem Wissen, dass sie es wieder abgeben, so viel Liebe und Zuwendung geben wie einem eigenen Kind.

In Kontakt bleiben
Die Übergabe an die Adoptiveltern (oder auch zurück zur Mutter) ist für die Eltern auf Zeit und das Kind wieder eine sehr emotionale Phase, die möglichst schonend für alle gestaltet wird. Die neuen Eltern kommen während mehreren Wochen regelmässig zu den Übergangspflegeeltern und dem Baby auf Besuch, die Übergangseltern besuchen die Adoptiveltern mit dem Kind an ihrem Wohnort. Alle geben dem Baby Zeit, Menschen und Umgebung kennenzulernen. «Trotzdem fliessen bei allen Tränen, wenn es soweit ist und das kleine Kind mit seinem Erinnerungskoffer umzieht», sagt Eva Fritschi. Mit den bisherigen vier Babys stehen sie auf freiwilliger Basis weiter in Kontakt. Sie bekommen Fotos und besuchen sich gegenseitig. Dann sind sie für die ehemaligen Pflegekinder aber nur noch Evi und Emanuel.

Adoptivwesen Schweiz

Pflege- und Adoptivkinder Schweiz (PACH) ist die Anlaufstelle bei allen Fragen rund um dieses Thema. PACH arbeitet eng mit dem Verein Tipiti zusammen. Wenn ein neugeborenes Kind zur Adoption freigegeben werden soll, sucht PACH im Auftrag einer Kesb, einer Beistandsperson oder einer Zentralbehörde für Adoption nach einem Platz in einer Übergangspflegefamilie, wie der Verein Tipiti sie anbietet. Alles Administrative und Rechtliche wird von PACH und Tipiti in Zusammenarbeit mit dem Spital gemeinsam geregelt.

Das Baby bleibt in der Übergangspflegefamilie, bis seine Si­tua­tion geklärt ist. Dies kann die rechtskräftige Adoptionsfreigabe sein oder der Entscheid der leiblichen Eltern, das Kind zu behalten. Wollen diese die Elternrolle übernehmen, können aber nicht selbst für das Kind sorgen, kommt es in eine Dauerpflegefamilie. Da verschiedene Abklärungen wie auch die der Vaterschaft nötig sind, dauert es oft mehrere Monate, bis das Kind an einen anderen Ort kommt. Im letzten Jahr betrug diese Zeitspanne im Schnitt neun Monate. Im Durchschnitt werden 8-10 Kinder in Übergangspflegefamilien betreut.

Damit die Babys keinen zweiten abrupten Beziehungswechsel wie direkt nach der Geburt erleben, wird die Übergabe sorgfältig geplant. Vier bis sechs Wochen lang besuchen sich beide Familien gegenseitig, um einen möglichst sanften Wechsel zu ermöglichen. (cs)

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