Weinland

Vor 50 Jahren verhinderten Weinländer eine Ost-West-Autobahn

Ohne eine am 10. Oktober 1972 in Bern deponierte Petition läge der Husemersee heute neben einem gigantischen Autobahn­knoten. Karl Griesser erinnert sich: Der Widerstand kam aus dem Volk – und nicht etwa von der Mehrheit der Behörden.

von Silvia Müller
30. September 2022

Die AZ schaut regelmässig in die Vergangenheit. So war am 31. Mai 2022 unter der Rubrik «Vor 50 Jahren» zu lesen, was 1972 im Weinland zum Aufstand führte: die geplante Autobahn E70. Sie sollte von Singen über den Schaaren bei Dies­senhofen via Schlatt und Trüllikon und über den Rhein zwischen Rheinau und Ellikon wieder nach Deutschland führen. Nördlich von Kleinandelfingen hätten sie und die A4 ein Autobahnkreuz gebildet. Auf diese Ost-West-Verbindung drängte Deutschland.

«München–Paris war das Schlagwort», erinnert sich Karl Griesser. Er war damals Seklehrer in Marthalen und organisierte gemeinsam mit vielen anderen im eigens dafür gegründeten «Weinlandkomitee» den Widerstand.

Ein Blick auf die Karte zeigt: Für Deutschland hatte dieser Plan nur Vorteile. Denn die Strasse gebaut, finanziert, unter- und ausgehalten hätte die Schweiz, genutzt hätten sie vor allem andere – zumal die Schweizer Ost-West-Achse, die A1 von St. Gallen nach Genf, schon weitestgehend in Betrieb war. Fakt ist: Bis heute leistet sich Deutschland entlang der ganzen Südgrenze keine echte Ost-West-Autobahn; Paradebeispiel ist und bleibt die rechtsrheinige Strecke Schaffhausen–Basel. Hätten sich die Weinländer 1972 nicht gewehrt, würde seither deutscher und osteuropäischer Güterverkehr beim Schaaren einfallen, durchs zerschnittene Weinland brausen und bei Lottstetten wieder verschwinden.

Zwei Fliegen mit einer Klappe
Zugleich wäre diese E70 von Singen bis Andelfingen die Nord-Süd-Achse zum Gotthard geworden. Auch dieses Vorhaben brüskierte: Immerhin hatte die Schweiz zu diesem Zweck schon zehn Jahre vorher die N4-Autobahn bis Bargen samt Grosszollamt fertig gebaut. Dieses Teilstück ist bis heute unternutzt, eine Art überdimensionierte Umfahrung der Durachtal-Dörfer. Denn Deutschland liess die Schweizer Autobahn gleich hinter der Grenze ins Leere laufen und wollte seine Nord-Süd-Route stattdessen via die E70 und via Singen bauen. Im Autobahnknoten bei Oerlingen wäre der gesamte Verkehr zusammengekommen und in die vier Himmelsrichtungen sortiert worden. Dazu kam es bekanntlich nicht.

Vom Volk, nicht den Behörden …
Der Widerstand im Weinland sei nicht ganz so einfach und linear verlaufen, wie in der AZ vom 31. Mai 2022 dargestellt, sagt Karl Griesser: «Noch 1972 haben sich mindestens vier Präsidenten der sechs direkt betroffenen Gemeinden in der Vernehmlassung nicht gegen die neue Autobahn gewehrt. Im Gegenteil, sie sahen trotz der Folgen für die Landwirtschaft und die Landschaft vor allem Vorteile.»

Die mehrheitlich bäuerlichen Präsidenten von Benken, Kleinandelfingen, Marthalen, Ossingen, Rheinau und Trüllikon sprachen sich damals noch für das Teilstück über den Schaaren bis zur A4 aus – einzig die Weiterführung Richtung Basel lehnten sie ab. Mehr noch: Weitere Gemeinden erhofften sich dadurch die Entlastung ihrer Ortsdurchfahrten. So warben die Präsidenten von Feuerthalen, Flurlingen, Laufen-Uhwiesen und Dachsen in der Presse mit diesem Argument explizit für die Schaaren-Autobahn. «In Wahrheit kamen das Umdenken, der Druck und die Argumente aus der Bevölkerung», sagt Karl Griesser.

… aber prominent unterstützt
Andererseits konnte das Weinland­komitee auf die Unterstützung «wichtiger Namen» zählen: Kantonsrat Konrad Meister (Benken) präsidierte es, die Kantonsräte Walter Frei (Unterstammheim) und Konrad Gisler (Flaach, späterer Regierungsrat) und mit ihnen viele bekannte Persönlichkeiten setzten ihren Namen unter die Petition (siehe Bildstrecke oben).

Innert Kürze sammelte das Komitee 32'484 Unterschriften. Am 10. Oktober 1972 wurden die Petitionsbögen, in «Bücki» und «Gelten» gesteckt, in Bern feierlich dem Bundesrat überreicht. Der grosse Rückhalt und sicher auch die 60 feschen jungen Winzer und Trachtenfrauen auf dem Bundeshausplatz bekamen die Aufmerksamkeit der Medien, auch nationaler Titel wie «Tagi» und «NZZ». Nationalrat Erwin Akeret reichte eine Motion ein. Alles zusammen reichte, dass der Bundesrat laut Karl Griesser «vorerst die Waffen streckte».

Nadelöhr Schaffhausen
Der Hauptverkehrsstrom fliesst bis heute über Thayngen und die (damals noch zweispurige) A4 durchs Weinland. Ältere Semester erinnern sich noch gut an die damit verbundenen Staus durch Feuerthalen und entlang der Schaffhauser Altstadt – bis 1996, als die Stadttangente mit Tunnels unter dem Fäsenstaub und dem Cholfirst in Betrieb ging. Zu Beginn der 70er-Jahre liebäugelte daher auch Schaffhausens Regierung noch mit der Schaaren-Autobahn, in der Annahme, dadurch diese innerstädtischen Verkehrsprobleme loszuwerden – und das ohne gigantisches Tunnelbauprojekt mitten in der Stadt.

Das grosse Umdenken begann erst zwei Jahre nach der Weinländer Petition, als sich die Naturschützer besser aufstellten. Die Schaffhauser «Aktion Rhy», das «Thurgauer Rheinkomitee» und das «Weinlandkomitee» wehrten sich zunächst einzeln, schlossen sich aber 1974 zum «Interkantonalen Hochrheinkomitee gegen zusätzliche Autobahnen» zusammen. Zwei Jahre nach der Petition, im Sommer 1974, stachelte dieses Komitee Politiker, Behördenmitglieder und Medienleute auf Weidlingen zum Ort des Geschehens. Karl Griesser hat auch die damaligen Reden am Rheinufer aufbewahrt.

Sie zeigen, dass die Argumente in den Amtsstuben inzwischen gehört wurden. So sagte nun Stadtrat Jörg Aellig, die (vom Bund projektierte und von der Stadt bislang abgelehnte) Stadttangente, also die 20 Jahre später tatsächlich realisierten A4-Tunnels, würden die Probleme weit besser lösen als eine Schaaren-Autobahn, die «der Stadt (…) überhaupt nichts bringt, aber eine einzigartige Landschaft zerstören würde».

Teilsieg, aber kein ewiger Friede
Karl Griesser sagt heute, er sei als junger Lehrer durch das Engagement für diese Sache «politisiert» worden. «Mir wurde die wichtige Rolle der Gemeindepräsidenten und der Zürcher Regionalplanungsgruppe Weinland (ZPW) klar.»

Deshalb kandidierte er 1974 für den Gemeinderat. Wohin das führte, ist bekannt: Karl Griesser war von 1974 bis 1986 Gemeinderat respektive Gemeindepräsident von Marthalen und von 1978 bis 1994 in der Leitung der ZPW. Seine Ahnung sei wahr geworden: «In Deutschland war die Autobahnverbindung von Nordosten her zur A4 seither immer wieder ein Thema, und sie ist bis heute nirgendwo ganz vom Tisch.»

Umso froher sei er über den Weiterausbau der A4 zwischen Herblingen und Winterthur. Seit 1997 hätten er und zahlreiche einstige Schaaren-Autobahn-Gegner sich im Komitee JA4 just dafür eingesetzt – nicht aus Lust am Stras­senverbreitern, sondern damit es bei dieser einen Autobahn durchs Weinland bleibe. Aus der einstigen «Todesstrecke» wurde seither die richtungsgetrennte «Miniautobahn».

«Nur mit einer ausreichenden Infrastruktur können wir den immer noch vorhandenen Gelüsten nach der Lückenschliessung langfristig etwas entgegenhalten», ist er überzeugt. Schon am 29.8.2003 mahnte er in der AZ unter dem Titel «Die A4 – gestern, heute, morgen»: Sollte dem Ausbau – aus Unkenntnis der langen Vorgeschichte – Widerstand erwachsen, wäre das äus­serst ungeschickt.»

Diese beiden Aufkleber …
Diese beiden Aufkleber … / Silvia Müller
… entdeckte man damals überall.
… entdeckte man damals überall. / Silvia Müller
Auch Künstler wie Roland Thalmann in Benken und Emil Häfelin in Marthalen, der dieses Wallholz malte, unterstützten das Komitee mit eigens dafür gemalten Werken.
Auch Künstler wie Roland Thalmann in Benken und Emil Häfelin in Marthalen, der dieses Wallholz malte, unterstützten das Komitee mit eigens dafür gemalten Werken. / Silvia Müller

«Mein Land, dein Land, Weinland – Betonland?», oder: Die Sternstunde des Elliker Posthalters

Im und fürs Weinlandkomitee engagierten sich verschiedenste Leute, denen der Erhalt einer der letzten damals noch beinahe unberührten Gegenden am Nordrand der Schweiz am Herzen lag. Dies attestiert das eindrückliche Verzeichnis der Komiteemitglieder. Einheimische, Zugezogene, Wissenschaftler, Organisationen aus den drei Kantonen, Landwirte, Ärzte, Handwerker, Lehrer, Landschafts- und Naturschützer, Mitglieder von Bezirksbehörden, sogar Industrielle unterstützten den Petitionstext offiziell.

Eine wichtige Rolle habe die «Andelfinger Zeitung» gespielt, also Karl Akeret (1910–2001), Vater der heutigen Verlegerin. «Er war ganz unserer Meinung und gab uns viel Platz in der Zeitung. Und er druckte für uns gratis alle Petitionsbögen, Flugblätter, Broschüren und mehrere Auflagen der begehrten Betonland-Aufkleber», erzählt Karl Griesser. Überall seien diese Kleber gewesen, an Autos, Töfflis, Schultheks, Strassenlampen.

Alle vollen Unterschriftenbögen landeten bei der Ein-Mann-Poststelle in Ellikon, wo Karl Griesser wohnte. Das Komitee sei selbst nicht mehr aus dem Staunen herausgekommen über den Rücklauf. «Plötzlich ging alles sehr schnell. Wir haben nächtelang sortiert und ausgezählt.» Der Posthalter, Ernst Friedrich sen., habe den «Umsatz seines Lebens» gemacht: «Er hat immer seinen steifen Hut angezogen, wenn er uns die unglaublich gros­se Post im Handwagen brachte.» Auf dem Rückweg nahm er gleich die adressierten Couverts mit bestellten, leeren Petitionsbögen mit. «Er war voll bei der Sache. Das war die Sternstunde von Ellikons Poststelle.» Die gibts inzwischen bekanntlich nicht mehr. Die E70 aber auch nicht. (sm)

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