Weinland

Jetzt ist Sperrstellentouren-Saison

Winterwandern auf besondere Art kann man zwischen Stammheim und Cholfirst: Die Route entlang Verteidigungsanlagen aus der Zeit des Kalten Kriegs bietet so manche Entdeckung.

von Silvia Müller
02. Februar 2024

Flüssen und Bächen zu folgen, ist zu jeder Jahreszeit schön. Entsprechend oft haben wir es schon gemacht. Eine unerwartete Abwechslung bietet der Winter. Wenn die Landschaft kahl und, noch besser, leicht mit Schnee überzuckert ist, entblösst sie, was früher möglichst verborgen bleiben sollte.

Schon eine kurze Exkursion mit Gemeinderat Martin Farner offenbart: Unser Grenzgebiet ist ein Bunkerland par excellence. Jetzt stehen wir gerade oberhalb des Schiessstands am Stammerberg, und er schwenkt seinen Arm übers ganze Panorama: «Eine Kette militärischer Verteidigungsanlagen zieht sich von Stein am Rhein über den Stammerberg und hier unten quer durchs Stammertal bis rüber auf den Cholfirst bei Wildensbuch», sagt er. «Bunker, Unterstände, Stras­sen­barrikaden, Panzersperren, Minenwerfer.» Schon auf dem Weg hier hoch war er mehrmals vom Gas gegangen, um auf solche Bauten aufmerksam zu machen.

Überall, wo die Landschaft selber eindringenden Fahrzeugen keine Hindernisse wie Wälder oder Steilhänge in den Weg stelle, habe das Militär die Passagen mithilfe von Bauten unter Kontrolle gebracht. Einige sind von Weitem sichtbar, andere erst aus der Nähe, sehr viele fast oder gar nicht.

Teil des Stachelfells der Schweiz
Nun kurven wir durch das Gelände zwischen Unterstammheim und Schlattingen. Immer wieder tritt Martin Farner auf die Bremse: Dass die riesigen Betonwürfel hinter der Furtmühle keine moderne Kunst, sondern Panzersperren sind, erkennen wohl alle. Doch dass die kleinen, überwachsenen Gruben im Wald einst Schützenstellungen waren, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. «Die meisten dieser  Abwehrstellungen waren für ein oder zwei Mann ausgelegt. Aber es gibt in der Region auch grosse Anlagen unter dem Boden.»
 
Die Gesamtheit dieser Bauten heisst offiziell «Sperrstelle Stammheim-Schlat­tingen» und ist ein militärhistorisches Denkmal von regionaler Bedeutung. Daran schliessen sich entlang der Landesgrenze am Rhein die Sperrstelle «Schaffhausen-Rhein, Dies­senhofen, Schaarenwald, Stein am Rhein, Unterschlatt» sowie von Feuer­thalen flussabwärts bis Rheinau zwei weitere Sperrstellen auf Zürcher Boden an.

Alle vier unterstanden der Grenzbrigade 6. Diese war mit 8300 Mann die grösste der elf Grenzbrigaden der Schweizer Armee. Die Brigade wurde 1994 aufgelöst. Bei der Armee­reform ein Jahr später wurden die meisten Anlagen aus­ser Betrieb genommen, und seit 2004 sind alle ausser Dienst. Heute sind die einstigen Militärgeheimnisse samt Karten, GPS-Koordinaten und Fotos im Internet einsehbar.

Ein Teil der Anlagen wurde nur stillgelegt, nicht aber vollständig ausgeräumt. Martin Farner zeigt ein Foto, das er vorletzten Sommer bei einer öffentlichen Führung im Hohbühl/Hohmarksten gemacht hat: Im als Wasserreservoir getarnten Bunker steht immer noch ein Festungsminenwerfer. «Vermutlich könnte man das Geschütz reaktivieren», sagt Martin Farner. «In den Augen mancher wäre das angesichts der Weltlage wohl gar kein so abwegiger Gedanke.»

Ein Kind des Kalten Kriegs
Der Bau der Befestigung an der Landesgrenze begann im Zweiten Weltkrieg. Damals gab es in der Stammheimer Senke noch keine zweite Verteidigungslinie. Erst danach, im Kalten Krieg (1947 bis 1989), schätzte die Armee die Gefahr so hoch ein, dass dort die stärkste Sperrstelle im gesamten Brigaderaum erstellt wurde.
 
Während die Bunker am Rhein die Landesgrenze sicherten, hätte die ins Hinterland zurückversetzte Sperrstelle im Stammertal das weitere Vordringen bereits eingedrungener Truppen aufhalten sollen. Laut den Fachleuten hinter dem Wikipedia-Eintrag stufte die Grenzbrigade 6 die für Angreifer günstigen Übersetzmöglichkeiten bei Stein am Rhein und Diessenhofen als gefährlich ein, weil von dort aus über das Stammertal in die Räume Winterthur und Frauenfeld vorgestos­sen werden konnte. Die Sperranlage zieht sich in westöstlicher Richtung quer durch die drei Kilometer von der Landesgrenze entfernte Senke und ist die letzte modernisierte Sperre der Schweiz. «Doch dieses Verteidigungskonzept basierte auf einer Armeestärke von 650'000 Mann. Heute leisten noch 150'000 Personen Dienst», sagt Martin Farner.

Noch Mitte der 1980er-Jahre wurde vom Stammerberg bis zum Cholfirst eine mächtige Panzersperre errichtet und 1987 die drei letzten Centi-Bunker der Schweiz gebaut. Der Name stammt daher, dass darin Geschütze der durch den Leopard ersetzten Centurion-Panzer mit modernen Zielgeräten aufgerüstet und für die stationäre Verteidigung weiterverwendet wurden.

«Nicht Aufgabe der Gemeinde»
Doch seither hat sich das Blatt zweimal gewendet. In den letzten Jahrzehnten suchte der Bund geeignete Abnehmer für nicht mehr benötigte Bunker. Erst gerade im September 2023, unter dem Eindruck des Ukrainekriegs, stoppte die Regierung diese Praxis wieder.

Für Stammheims Gemeinderat spielt dieser Haltungswechsel keine Rolle: Die Behörde hatte schon im Januar 2023 beschlossen, der Arma­suisse die drei Centi-Bunker im Tal nicht abzukaufen, da es nicht zur Aufgabe einer Gemeinde gehöre, solche Bauten zu besitzen und zu verwalten. Vielmehr wollte Stammheim die Anlagen auf Grundstücken der Gemeinde dem Verein Pro Castellis im Baurecht übertragen. Dies wurde aber noch nicht vollzogen. So oder so bleiben die Anlagen erhalten für die Nachwelt.

Wer den nächsten Ausflug an der frischen Luft mit einer militärischen Spuren­suche verbinden will, findet alle Infos bis hin zu den exakten Koordinaten im Internet. Viel Spass!

https://de.wikipedia.org/wiki/Sperrstelle_Stammheim-Schlattingen

«Diese Barrikadenpfähle waren nie im Einsatz», sagt Martin Farner.
«Diese Barrikadenpfähle waren nie im Einsatz», sagt Martin Farner. / Silvia Müller

Rückbau wäre oft in mehrfacher Hinsicht ein Verlustgeschäft

Die gigantische Panzersperre quer durchs Tal, das Eisenpfahlwäldchen, die Schützenstellungen, die Bunker: Sie sind überflüssig geworden und könnten abgebrochen werden – so wie kürzlich der klobige Bunker unterhalb des Klosters Kathrinental einem Naturstrand Platz gemacht hat.

Doch so ein Rückbau ist enorm teuer. «Am gescheitesten lässt man das meiste wohl einfach stehen», sagt Gemeinderat Martin Farner. Denn objektiv würde die Allgemeinheit mit dem Rückbau «wenig gewinnen, aber viel verlieren». Im Schutz der Absperrungen und hinderlichen Bauten seien seltene Lebensräume für Pflanzen und Tiere entstanden, die ihnen hier niemand streitig mache. «Rund um einige der alten Militäranlagen liegen heute echte Biodiversitäts-Hotspots. Die Natur erobert unsere Verteidigungsbauten auf die ihr eigene Art zurück», sagt Martin Farner, der sich als Gemeinderat, Gartenbauer und privat mit Biodiversität befasst. (sm)

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