Weinland

Mehr als nur Schiessen

In diesen Tagen finden in den Weinländer Jagdrevieren die letzten Gemeinschaftsjagden auf das Rehwild statt. Was alles hinter einem solchen Tag steckt, zeigt ein Augenschein bei der Jagdgesellschaft Trüllikon.

von Bettina Schmid
13. Dezember 2019

Um 11.00 Uhr durchschneidet der erste Schuss die kalte Herbstluft, kurz dar­auf folgt das andächtige «Tuu, tuu, tuu» des Jagdhorns. Stille. Ein Reh wurde erlegt – wie die drei Signaltöne mitteilen. Jeder Wildart ist ein eigenes Zeichen zugeordnet, klärt Jagdleiter Johannes Rupp auf. Einmal blasen bedeutet Hase, zweimal Fuchs oder Dachs, dreimal Reh, viermal Wildschwein.

Ungefähr drei Stunden sind seit dem Start der zweiten und letzten Gemeinschaftsjagd (umgangssprachlich Treibjagd) auf Rehwild in diesem Jahr im Jagdrevier Trüllikon vergangen – und ich darf die 16 Jäger, dar­un­ter eine Jungjägerin, die eingetragenen Jagdaufseher, zwei Nachsuchegespanne und den Jagdleiter, auf zwei der insgesamt vier Triebe begleiten.

Im Zickzack durchs Dickicht
Mit sechs anderen Treibern sowie vier Hunden streife ich durch ein 45 Hek­tar grosses Waldstück und versuche, mit Rufen und «Stock gegen den Baum schlagen», die Tiere aus dem Dickicht aufzuscheuchen. Die Jäger sind auf die Stände (Stellungen, von denen sie sich nicht entfernen dürfen) verteilt, welche sich im bejagten Waldstück entlang der Wildwechsel befinden. In minutiöser Vorarbeit hat die Jagdgesellschaft diese ausfindig gemacht und die Positionen der Schützen sowie die Route der Treiber geplant. Eine Voraussetzung, damit keine Unfälle passieren.

 «Brrrrrr…hohohoooo», rufe ich, während ich mich in 50 Metern Abstand zu den Treibern rechts und links von mir in einer Zickzack-Linie durchs Dickicht kämpfe. Eingekleidet in leuchtend orange Jacken, damit uns die Jäger im Unterholz sehen können. Es ist anstrengend, und alle sind höchst konzentriert. Obwohl ich mir die Wegskizze genau eingeprägt habe, verliere ich nach kurzer Zeit im Dickicht die Orientierung. Keine Ahnung, wo ich bin, keine Ahnung, wo ich hin muss. Nicht so mein «Mentor», ein erfahrener Treiber, der bereits mehrmals dabei war und deshalb genau weiss, was zu tun ist. Ich halte mich etwas näher an ihn und versuche, Sichtkontakt zu halten.

Bald kommen wir an einem Jäger vorbei. «Hast du auch zwei Schüsse gehört?» «Ja, aber nur ein Horn», tauschen sich die beiden kurz aus. Weiter geht es durch Dornengebüsch. Mein linkes Bein verfängt sich im Unterholz, und ich muss aufpassen, dass ich nicht der Länge nach hinfalle. Wie bin ich nun froh um die dicke Latzhose, die Johannes Rupp mir im Vorfeld gegeben hat. Kurze Zeit später danke ich Gott (oder Johannes Rupp) für mein leuchtend oranges Erkennungsmerkmal: Denn wie aus dem Nichts rasen zwei Rehe an mir vorbei, ich sehe einen Jäger anvisieren und warte auf das «Peng» – aber alles bleibt still. Später, beim traditionellen Nachbesprechen des Triebes, erfahre ich, dass «zwei Treiber» (mein Mentor und ich) in der Richtung der Rehe gestanden hätten und er deshalb nicht geschossen habe.

Weniger Glück hatte der junge Rehbock, dem der erste Schuss gegolten hatte. In ungefähr 15 Meter Abstand zum Schützen liegt er und sei «sofort tot gewesen» – erlegt mit einem Schrotschuss. «Ein Schuss darf nur abgegeben werden, wenn gewährleistet ist, dass das Tier auch getötet und nicht bloss verletzt wird», so Johannes Rupp. Es dürfe nicht unnötig leiden, deshalb gelte der Grundsatz «lieber einen Schuss weniger als einer zu viel».

Dass sich die Jäger daran halten, zeigt die Tatsache, dass bei über 30 Tiersichtungen in den ersten zwei Trieben nur drei Rehe und ein Fuchs erlegt wurden. Bis am Ende des Tages werden es noch drei Rehe mehr sein – eine Nachsuche wurde bei keinem notwendig. Ich betrachte das Kitzböckli eine Weile und bin dankbar dafür, dass es nicht leiden musste. Kein Tiertransport in weit entfernte Schlachthäuser, kein Eingesperrtsein. Meine Gedanken schweifen drei Stunden zurück, an den Beginn dieser Jagd.

Den Horizont erweitern
Es war 8 Uhr morgens, auf einer Anhöhe oberhalb von Trüllikon. «Jung vor alt, weiblich vor männlich, führende Muttertiere sind zu schonen». Jagdleiter Johannes Rupp las die Jagdregeln vor – und mir war übel vor Aufregung. Die Nacht zuvor hatte ich vor Nervosität kaum geschlafen. Bilder von toten Rehen mit heraushängender Zunge drängten sich im Dunkeln vor mein inneres Auge – und ich fragte mich, wie ich mit dem Schies­sen auf Tiere würde umgehen können. Würde es mich belasten, hautnah dabei gewesen, ja als Treiberin vielleicht sogar mitverantwortlich für den Tod eines Tieres zu sein? «Auch wenn das Erlegen von Tieren nur ein kleiner Teil des Jägerdaseins ist, werden doch in letzter Konsequenz auch Lebewesen getötet, ist dies für Sie kein Problem?», fragte mich auch Johannes Rupp beim telefonischen Vorgespräch. Nur, dies wusste ich zu diesem Zeitpunkt selber noch nicht.

Was ich am Morgen der Jagd nebst der Anspannung dann aber auch verspürte, war eine grosse Portion Neugier. Das Draussensein in der Natur, den eigenen, vielleicht etwas engstirnigen Horizont erweitern, Neues erfahren…

So viele Wildschweine wie möglich
Und bereits bei der Begrüssung staunte ich. Staunte über die arbeitsintensive Vorbereitung einer solchen Jagd, über all die Dinge, die dahinter stecken. Auf dem ersten Trieb, der übrigens schusslos endete, begleitete ich Johannes Rupp auf den Stand. «Gemäss Abschlussplan müssen wir heute noch mindestens drei Rehe erlegen», erklärte er mir, während wir auf das Auftauchen eines Wildtieres warteten. Der Plan ist ein von der kantonalen Jagd- und Fischereiverwaltung erstelltes Dokument, das vorgibt, wie viel Rehwild in jedem Revier abgeschossen werden müssen.

Wildschweine dürfen die Jäger dagegen so viele wie möglich erlegen. Denn zu viele Rehe bedeuten grosse Schäden für den Forst, zu viele Wildschweine für die Landwirtschaft – finanzielle Einbussen, für welche die Jagdgesellschaften in Form von Wildschadenvergütungen aufkommen müssen. Auch der Tierbestand sollte gesund bleiben.

Eine Tiersichtung hatten wir während dieses ersten Triebs bis zum Schluss nicht, vermutlich auch, weil wir miteinander sprachen. «Die Tiere sind schlau, hören und riechen den Menschen und drehen je nach Wind rechtzeitig ab. Die Fluchtmöglichkeiten sind sehr gross», so Johannes Rupp.

Letzte Ehre erweisen
Unausweichlich kamen wir auch auf das Thema Ethik zu sprechen. «Das Erlegen eines Wildtieres gehört beim Jagen ganz klar auch dazu», sagte Johannes Rupp. Um Trophäenjagen gehe es hier aber niemandem. Sie seien alles Tierfreunde, und jedes einzelne erlegte Tier werde gewürdigt. Die Ehrerweisung nimmt einen wichtigen Stellenwert beim Jagen ein. Jeder Schütze nimmt sich einen Moment Zeit für seine Beute, legt das Tier schön hin und gibt ihm den «letzten Bissen» (einen Tannenzweig, der in den Mund gelegt wird). Die Wildtiere seien ihr Kapital, und dem Kapital schaue man gut, sagt auch ein anderer Jäger und Pächter des benachbarten Jagdreviers Cholfirst, der heute als Gast dabei ist.

«So wenig Tiere wie möglich aber so viel wie nötig schiessen» sei die Devise. Auch das eidgenössische Jagdgesetz besagt im ersten Artikel, es bezwecke die Artenvielfalt und die Lebensräume zu erhalten, bedrohte Tierarten zu schützen, Schäden zu begrenzen und Wildbestände angemessen zu nutzen.

Und so bin ich nach den Trieben (der zweite wurde in der Zwischenzeit mit dem Jagdhorn offiziell «abgeblasen») beim gemeinsamen, geselligen Mittagessen erstaunt über die Geduld der Jäger. Und darüber, wie diszipliniert sie nur dann schiessen, wenn alles passt. Demut vor dem Tod ist spürbar, ein Jäger muss sich mit dem Kreislauf des Lebens auseinandersetzen. Selber zu schiessen kann ich mir auch nach diesem Tag nicht vorstellen, wieder mal als Treiberin dabei zu sein, allerdings schon.

Mit den Jägern durchs Jahr
Die «Andelfinger Zeitung» wird sich während eines Jahres in regelmäs­sigen Abständen mit dem Thema Jagd beschäftigen, Jäger durchs Jahr begleiten, Hintergründe beleuchten und verschiedene Seiten aufzeigen. Die Reportage über die Gesellschaftsjagd war der Auftakt dieser Serie.

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