Weinland

Von gierigen Störchen und gut bewachten Schmalzhäfen

Gegenseitige Beschimpfungen und Neckereien haben im Weinland Tradition, wie kürzlich in der AZ zu lesen war. Diese Fortsetzung zeigt, dass man im Stammertal sogar ganz besonders auf Abgrenzung erpicht war.

von Silvia Müller
05. September 2023

Zwischen vielen Familien und auch ganzen Dörfern pflegte man früher eine gegenseitige, unterhaltsame Hassliebe. In Ermangelung besserer Gründe reichte es schon, sich gegenseitig des Froschfressens zu bezichtigen (AZ vom 25.8.2023).

Eine originelle Variante davon ist bis heute im Stammertal lebendig. Die Guntalinger nennt man dort immer noch «Störche», und diese Vogelart ist nicht nur fürs Kinderbringen, sondern auch fürs Froschfressen bekannt. Der Spottname rührt noch aus der Zeit, als der Mülibach durchs Tal mäandrieren durfte und ausgedehnte Feuchtgebiete schuf, die erst im letzten Jahrhundert zu Ackerflächen trockengelegt wurden. Dass die Guntalinger ihren Übernamen mit Stolz und Humor tragen, beweist der vergoldete Wetterhahn auf dem Dach des ehemaligen Schulhauses – es ist tatsächlich ein Storch, kein Güggel.

Doch auch noch der zu einem Strich gebändigte Mülibach, wahrlich kein imponierendes Gewässer, reichte den Ober- und Unterstammheimern, um die Welt scharf zweizuteilen: Am einen Ufer sie selbst, auf der anderen Seite die Guntalinger und Waltalinger, gerne tituliert als «die von ennet em Bach» oder gar «die von ennet em Jordan».

Traditionen und Dörfligeist
Ohnehin wurzelt der Dörfligeist im Stammertal noch etwas tiefer als anderswo. Laut der 2016 erschienenen Chronik «Das Stammertal 1831 bis 1980» von Markus Brühlmeier hat dies historische Gründe, die bis ins Mittelalter zurückreichen und zuletzt mit der Ablösung der alten Dorf- beziehungsweise Zivilgemeinden durch die vom Kanton verordneten politischen Gemeinden zusammenhingen. Noch einen Schritt weiter ging es mit der Fusion 2019. Seither sitzen die vier Zürcher Dörfer nicht nur im gleichen Tal, sondern in einem einzigen Boot. Ihre althergebrachte Rivalität darf weiterhin jedes Jahr am Himmel explodieren: Beim Errichten der drei Höhenfeuer und mit dem Feuerwerk an der Bauernfasnacht versucht sich die Dorfjugend seit Jahrzehnten gegenseitig zu übertrumpfen. Unterstammheim habe jeweils die höchste Konstruktion, Oberstammheim die hässlichste und Guntalingen die schönste, sagt man – auf dem Zenggel in Guntalingen. Die Konkurrenten am Stammerberg sehen das garantiert anders.

Diese institutionalisierte und lieb gewonnene Rivalität wurde übrigens während den Fusionsvorbereitungen als schützenswerte Tradition für die Zukunft festgehalten.

Selber fressen macht feiss
Die Stammertaler nennen sich gegen­seitig Störche (Guntalingen), Schmalzhäfen (Waltalingen), Schäfli (Oberstammheim) und Böck (Unterstammheim). Woher der Begriff Schmalzhafen stammt, scheint nur noch vage bekannt zu sein – es habe «irgendetwas mit der Antonius­kapelle zu tun gehabt». Mehr war den Gewährsleuten nicht zu entlocken. Geht man dem wenig versprechenden Hinweis nach, stösst man schnell auf Robert Durrers Artikel «Der mittelalterliche Bilderschmuck der Kapelle zu Waltalingen bei Stammheim», 1898 im 24. Band der «Mittheilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich» publiziert und seit Kurzem dank www.e-periodica.ch mit nur einem Mausklick von jedem Sofa aus in Griffweite.

Laut Robert Durrer stritten sich die Guntalinger und die Waltalinger um die nicht unerheblichen Besitztümer der unter dem Schloss Schwandegg gelegenen Antoniuskapelle. Nach der Reformation, 1540, wollte der Zürcher Rat diese Kapelle zum ersten Mal schleifen lassen, doch die Waltalinger wehrten sich damals und auch später immer wieder erfolgreich dagegen.

Die Guntalinger fielen ihren Nachbarn in dieser Sache jeweils in den Rücken und schlugen sich auf die Seite der Regierung. Sie betonten ihr Miteigentum und Nutzungsrecht und hätten das Kirchengut der Kapelle noch so gerne aufgelöst und aufgeteilt. Vielleicht entstand das Bild der gefräs­sigen Guntalinger Störche aus just diesem langen Streit. Sicher ist, dass Schmalzhäfen seit jeher Wohlstand und sorgsam gehütete Vorräte symbolisierten und entsprechend beliebte Geschenke an bäuerlichen Hochzeiten waren. Hinter den Übernamen Storch und Schmalzhafen steckten also vermutlich handfeste Konflikte.

Schäfli und Böck
Wieso die Oberstammheimer die «Schäfli» sind, konnten die Gewährsleute nicht erklären. Möglicherweise geht auch dies auf bestimmte Ereignisse zurück, und vielleicht hat der Spruch «Nur Schaf sind immer brav» auf einem der Kachelöfen im Oberstammer «Hirschen» etwas damit zu tun? Ebenfalls nicht auf die Schnelle erschliesst sich, warum die Unterstammheimer nach wie vor die «Böckli» sind. Den Familiennamen Böckli jedenfalls findet man laut Telefonbuch heute nur in Guntalingen und rundherum im Thurgau, nicht aber in Unterstammheim. Die Nussbaumer wurden übrigens «Schudereulen» genannt, und die Uerschhauser – «Frösche»!

Wissen Sie Genaueres über diese alten Geschichten aus den Weinländer Dörfern? Kennen Sie weitere? Melden Sie sich unter s.mueller@andelfinger.ch oder 079 756 44 14.

Wir sind einander alle die gleichen Anderen

Falls beim Lesen der beiden Artikel über die Feindschaften zwischen den Weinländer Dörfern der Eindruck entstanden sein sollte, die Schreibende mache sich über hinterwäldlerische Gepflogenheiten auf dem Lande lustig, sei das entkräftet: In den Städten wucherten die Klischees und Feindseligkeiten genauso, und sogar noch sehr viel kleinräumiger.

Von den Schlachten, welche sich die Schaffhauser Weber­gässler mit anderen Altstadtbanden und den Rotten vom Geissberg, Emmersberg oder der Breite lieferten, erzählt man sich bald siebzig Jahre später immer noch. Auf der falschen Strassenseite zu wohnen, reichte in der Stadt bereits aus, um abgepasst und verprügelt zu werden. Doch woher kommt unser Bedürfnis, die Menschen in Eigene/Andere einzuteilen und ab dann das Hirn auszuschalten?

Auf diese Frage haben die Sozialwissenschaften und die Psychologie Antworten. Erstaunlich daran: Von schnellen und reflexartigen Kategorisierungen hängt das Gelingen unseres Alltags ab, sie vereinfachen unsere Entscheidungen. Diese sogenannten Stereotypen können negativ, aber genauso auch positiv besetzt sein. Zudem sind auf kollektiven Erfahrungen basierende Stereotype erwiesenermassen erstaunlich nahe an den statistischen Tatsachen und somit eine gute Entscheidungsbasis. Wir Individuen würden aufgrund lediglich unserer eigenen Erfahrungen eher riskieren, falsch zu liegen.

Vom hilfreichen Stereotyp zum Klischee und weiter zum Vorurteil sind es aber nur kleine Schritte. Warum lassen wir uns immer wieder darauf ein? Die Forschungen sagen: Weil Vorurteile zur Abgrenzung von anderen dienen – gerade auch dort, wo es keine oder allenfalls minimste Unterschiede gibt, die uns dazu Anlass böten.

Wir wollen speziell sein und trotzdem dazugehören. Ab- und Ausgrenzungen stärken unsere eigene Bedeutsamkeit und das Selbstwertgefühl, indem die anderen abgewertet werden. Innerhalb der eigenen Gruppe schaffen Vorurteile Bindungen und stärken die Zusammengehörigkeit. Es spricht also einiges dafür, die Nachbarn zwischendurch als Froschfresser oder Halslose zu titulieren, wenn es mit einem Augenzwinkern geschieht und nur Schimpfwörter hin- und herfliegen. Vermutlich ersparen wir uns so ernsthaftere Konflikte. Im Grunde wissen wir ja, weshalb wir das Bedürfnis haben, uns selbst etwas besser darzustellen: Wir und die auf der anderen Seite sind einander die ziemlich gleichen Anderen. (sm)

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