Weinland

«So mutig bin ich gar nicht»

Natallia Hersche verbrachte nach einer Demo gegen das Regime von Machthaber Lukaschenko eineinhalb Jahre im belarussischen Gefängnis. Darüber, was ihr in dieser Zeit Hoffnung gab, sprach sie am Mittwoch im Zen­trum Spilbrett.

von Jasmine Beetschen
19. Januar 2024

«Der Preis des Widerstands» – unter diesem Namen steht die Vortragsreihe der ökumenischen Erwachsenenbildung 2024, durchgeführt von den Reformierten Kirchen Feuerthalen und Laufen am Rheinfall sowie von der Katholischen Kirche Weinland. Diesen Preis zahlte auch Natallia Hersche. 2020 reiste die belarussisch-schweizerische Doppelbürgerin nach Minsk. Dort wurde sie nach der Teilnahme an einer Demon­stration gegen das Regime des Machthabers Alexander Lukaschenko verhaftet. 17 Monate wurde sie als politische Gefangene festgehalten, verbrachte einen Teil in einer Frauenkolonie und 10 Monate in Einzelhaft.

Wie Natallia Hersche diese Zeit erlebte und welche Rolle ihr Glaube dabei spielte, erzählte sie am Mittwochabend im Podiumsgespräch mit SP-Gemeinderat Holger Gurtner im Zen­trum Spilbrett in Feuerthalen. Rund 70 Personen folgten gespannt ihren Ausführungen und staunten über die Willensstärke und Kraft der zierlichen Frau.

Jahrhunderte der UnterdrĂĽckung
«Das belarussische Volk wird schon seit Jahrhunderten unterdrückt – früher von den Zaren, später von den Kommunisten, die versuchten, unsere Kultur und Sprache und damit unsere Identität zu vernichten», erklärte sie auf eine Frage aus dem Publikum nach der Motivation, an Demos teilzunehmen, trotz des ihr bekannten Risikos einer Verhaftung. Es habe aber schon immer auch Menschen gegeben, die sich nicht hätten verbiegen lassen und sich für ihre Überzeugung eingesetzt hätten.

Nach der manipulierten Wiederwahl Lukaschenkos sei die Empörung im Land gross gewesen. Ein Grossteil der Bevölkerung habe sich gewehrt und sich für Gerechtigkeit stark gemacht. Das habe auch sie mitgezogen, weshalb sie beschloss, in ihre alte Heimat zu reisen, um mit ihrem Volk zu demonstrieren. «So mutig bin ich gar nicht, doch für meine Überzeugung stehe ich ein. Wenn du hinter einem Wert stehst und einen Weg gewählt hast, dann gibt es kein Zurück.» Diese Einstellung sei auch mit ein Grund gewesen, weshalb sie sich während ihrer Haft stets geweigert habe, ein Begnadigungsgesuch zu unterzeichnen. «Ich war zu Unrecht verurteilt worden, war­um sollte ich mich also für etwas schuldig bekennen, das ich nicht getan habe?» Sie sei sich ihrer Sache sicher gewesen und habe sich treu bleiben wollen. «Ich habe mir gesagt, dass es ‹nur› einige Monate im Gefängnis sind, ich mir aber auch das restliche Leben danach noch in die Augen schauen können muss.»

Eine beeindruckende Leistung, wie Holger Gurtner anmerkte. Vor allem in Anbetracht dessen, dass Natallia Hersche keinerlei Anhaltspunkte hatte, wie lange ihre Haft genau dauern sollte (siehe Kasten).

Der Glaube gab ihr Kraft
In ihrer Zeit in der Frauenkolonie in Gomel und in der späteren Einzelhaft fand sie auch Halt im Glauben. «Meine Bibel war immer bei mir.» Das Lesen darin habe ihr Zuversicht gegeben, trotz der prekären Zustände im Gefängnis durchzuhalten. Während ihres Aufenthalts im Gefängis nahm sie sechs Kilogramm ab, das Essen sei furchtbar gewesen, und Briefe an und von Familie und Freunden wurden stark zensiert. «Ohne Hoffnung hätte ich wohl nicht überlebt.»

Ganz besonders geholfen habe ihr eine Stelle in der Bibel: «Aber auch wenn ihr um der Gerechtigkeit willen leiden müsst, seid ihr selig zu preisen. Fürchtet euch nicht vor ihnen und lasst euch nicht erschrecken, […]» (Petr. Brief, 3,14) Dieser Satz sei wie für sie geschrieben und habe sie stets begleitet. «Bei jeder Gelegenheit habe ich mir diese Worte laut vorgesagt, was mir viel Kraft gegeben hat.»

Jeden Tag geniessen …
Ob sich in Zukunft etwas in Belarus ändern wird, kann sie nicht sagen. «Die Hoffnung bleibt aber sicher bestehen, vor allem in die jungen Leute, die vielleicht auf Reisen im Ausland schon erlebt haben, wie es auch sein könnte.» Für das Volk, aber auch für die zahlreichen noch immer inhaftierten politischen Gefangenen hoffe sie, dass die ausländischen Regierungen den Druck auf Lukaschenko gezielt verstärken würden, beispielsweise durch wirksame Sanktionen. Sie selbst werde nicht mehr in ihr zweites Heimatland reisen. Zu gross sei das Risiko einer erneuten Verhaftung – trotz Begnadigung des Präsidenten: «Dar­auf kann man sich nicht verlassen.»

… und Freude ins Leben bringen
Natallia Hersche hat einige Zeit gebraucht, um die Erlebnisse ihrer Haft zu verarbeiten. Heute gehe es ihr aber gut. Sie konzentriere sich nun auf ihre Zukunft. Einen Fünfjahresplan habe sie aber nicht, wie sie Holger Gurtner zum Schluss des Gesprächs erklärte. «Durch meine Haft ist mir bewusst geworden, wie kurz das Leben sein kann. Daher muss man jeden Tag neu genies­sen und etwas machen, das einen erfüllt.» Daher habe sie sich für die Kunst entschieden, fertigt nun Portrait- und Gerichtszeichnungen an und will sich in diesem Bereich verwirklichen (www.natalliahersche.ch). Das Erlebte will sie endgültig hinter sich lassen. «Meine Aufgabe ist es nun, Freude ins Leben zu bringen und vorwärts zu blicken.»

Zur Person

Natallia Hersche wurde 1969 in Belarus geboren und ist belarussisch-schweizerische Doppelbürgerin. Die Ökonomin kam mit ihren beiden Kindern 2007 nach Appenzell. Nach der manipulierten Wiederwahl Lukaschenkos reiste sie 2020 nach Minsk und nahm an den Demonstrationen teil. Dort wurde sie festgenommen. Statt zu den dafür zu erwartenden 15 Tagen Haft wurde sie jedoch zu zweieinhalb Jahren verurteilt. Die Anklage: Widerstand gegen die Staatsgewalt und Verletzung eines Polizisten. Beweise dafür wurden jedoch nie vorgelegt. Erst nach grossen Bemühungen der Schweizer Botschaft und des Bundesrats sowie dank des unerbittlichen Kampfs ihres Bruders wurde sie nach eineinhalb Jahren freigelassen. Zurück in der Schweiz wurde sie mit dem Prix Courage des «Beobachters» ausgezeichnet. Heute lebt sie in Tübach am Bodensee. (jbe)

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