Weinland

Stress ist subjektiv, betrifft aber viele

Wie kann ich mein Kind im Umgang mit Stress unterstützen? Psychotherapeutin Nuša Sager-Sokolic gab am Elternanlass der Sek Uhwiesen hilfreiche Einblicke und Tipps zum Thema.

von Jasmine Beetschen
16. Juni 2023

Schule, Hausaufgaben, Ämtli zu Hause, Freundschaften, Hobbies: Wer den heutigen Wochenplan eines Kindes oder Jugendlichen anschaut, sieht meist keine leeren Felder mehr. Immer unterwegs und überall dabei, das kann auf die Dauer anstrengend werden. «Jedes 6. Kind und jeder 5. Jugendliche fühlt sich heute so gestresst, dass er oder sie darunter leidet», sagte Nuša Sager-­Sokolic. Die gelernte Psychotherapeutin informierte am Dienstagabend an der Sekundarschule Uhwiesen im Rahmen der Elternveranstaltung zu «Jugendliche im Stress». «Ein Thema, das sehr viele betrifft, aber leider noch immer zu oft und zu lange unerkannt bleibt», so die Referentin zu den rund 20 Anwesenden.

Fast die Hälfte aller 15- bis 21-Jährigen in der Schweiz fühlen sich gestresst. Stress ist eine evolutionsbedingte Überlebensreaktion oder wird ausgelöst durch einen Bewertungsprozess. Nuša Sager-Sokolic betonte, dass Letzterer meist sehr subjektiv und individuell ist, sei es als Reaktion auf die persönliche Einschätzung oder die von aussen, wie zum Beispiel durch Noten oder Mitmenschen. Wichtig findet sie, zu betonen, dass Stress nicht per se schlecht ist. «Eine entsprechende Aktivierung, die immer wieder von Phasen der Erholung abgelöst wird, erleben wir oftmals sogar als angenehm, leistungssteigernd und motivierend. Nur durch Stress können neue Bewältigungsstrategien erarbeitet und verbessert werden.» So können Bewältigungsstrategien als Ressourcen für das weitere Leben gesehen werden.

Doch wird der Stress chronisch, muss gehandelt werden, denn Kinder und Jugendliche wie auch Erwachsene können davon physisch und psychisch krank werden. Das zeigt sich unter anderem durch Übergewicht, Depressionen oder durch Sprachentwicklungs-, Konzentrations- und Schlafstörungen. Als Eltern oder auch Angehörige muss man genau hinschauen, um Symptome zu erkennen. Diese kennen viele der Anwesenden von zu Hause: aggressives Verhalten, Appetitlosigkeit, Rückzug, Kopfschmerzen. Kinder leiden dabei vermehrt unter den physischen Folgen, während bei Jugendlichen häufiger psychische Symptome auftreten.

Körper in Alarmbereitschaft
Wenn der Körper Stress ausgesetzt ist, reagiert er auf der physiologischen Ebene unter anderem mit verstärkter Schweissbildung, erweiterten Pupillen, der Ausschüttung von Adrenalin und Zucker ins Blut sowie der verstärkten Durchblutung in gros­sen Muskeln. Auffällige Symptome sind schneller, flacher Atem, erhöhte Muskelanspannung sowie eine geistige Aktivierung. «Der Körper gerät in Alarmbereitschaft, es gilt Flucht oder Kampf», so die Psychotherapeutin. Neben den bekannten Stressreaktionen zählt sie aber noch eine hinzu: Freeze. «Manche gestresste Menschen erstarren in ihrem Zustand und passen sich diesem an. Sie lernen, mit ihm zu leben, was auf die Dauer schädlich sein kann.»

Weitere Symptome sind beispielsweise auf psychischer Ebene Versagensängste: «49,2 Prozent der gestressten Kinder haben Angst, die Eltern zu enttäuschen, 52,1 Prozent haben das Gefühl, Dinge falsch oder nicht gut genug zu machen, und 70 Prozent kommen mit den Hausaufgaben nicht zurecht», nannte Nuša Sager-Sokolic ein paar Zahlen. Auf der kognitiven Ebene können Aufmerksamkeitsstörungen, Unkonzentriertheit oder Gedankenkreisen auftreten. Im Verhalten zeigt sich Stress zudem in Form von Aggressivität, sozialem Rückzug oder Impulsivität.

Wichtig: Wie bedeutend ein Stressor ist, lässt sich nur aus der Sicht des Kindes beurteilen, da die subjektive Bewertung zentral ist. «Das heisst, dass Eltern Stressoren eigentlich nicht einschätzen können und daher unbedingt auf das Empfinden ihrer Kinder hören sollten.» Für Erwachsene sind gewisse Stressoren belanglos. Die Psychotherapeutin untermauerte ihre Aussage mit einer Studie: Über 87 Prozent der Eltern von gestressten Kindern glauben nicht, dass sie ihr Kind mit Aktivitäten überfordern, die Hälfte macht sich eher Sorgen, dass sie ihre Kinder nicht genügend fördern. Hingegen hätten 87 Prozent der Kinder mit hohem Stress gerne mehr Zeit für sich. «Sie sehen, da gehen die Empfindungen stark auseinander.»

Multitasking ist zudem nicht möglich. «Wir müssen uns von dieser Vorstellung verabschieden. Multitasking bedeutet nur, dass wir zwischen zwei Dingen hin- und herwechseln müssen, was unserem Körper noch mehr Energie abverlangt.» Ganz wichtig sei es daher, Kindern und Jugendlichen beizubringen, richtig mit Stress umzugehen. «Kinder lernen von uns, wir sind Vorbilder. Wie wir Stress handhaben, hat also einen gros­sen Einfluss.»

Bewältigungsstrategien vermitteln
Wenn das Kind unter Stress leidet, müssen Eltern erst verstehen, was den Stress auslöst, bevor etwas verändert werden kann. «Genau hinschauen, die Individualität dabei beachten, das Gespräch suchen und schliesslich Stressquellen minimieren. Das kann auch sein, dass man für eine gewisse Zeit einzelne Aufgaben aus der Alltagsplanung herausnimmt, um die Situation zu entschärfen», so Nuša Sager-Sokolic. Dabei können Wochenpläne helfen, einen Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit herzustellen.

Ein grosses Thema unter den Teilnehmenden war auch der Medienkonsum. Hier empfiehlt die Expertin, mit den Kindern und Jugendlichen zusammen eine Regelung zu finden und eine ausgewogene Nutzung, sprich nicht mehr als 20 Stunden pro Woche, zuzulassen. «Dazu zählen das Handy, aber genauso auch Computerspiele, Social Media oder Fernsehen», ergänzte sie.

Um aus stressvollen Situationen herauszukommen, gibt es diverse Bewältigungsstrategien, die dem Nachwuchs schon im Kindesalter beigebracht werden sollten. Achtsamkeit ist eine davon, die sich leicht in den Alltag einbauen lässt und hilft, eine bessere Körperwahrnehmung zu erlangen. Einfach ist beispielsweise die Achtsamkeitsübung, bei der man sich eine Minute auf den eigenen Atem konzentriert. Auch die positive Muskelrelaxation kann helfen. Dabei wird beispielsweise die Hand bewusst einige Zeit angespannt und danach wieder gelöst. «Damit können wir unser Zentralnervensystem herunterfahren und schliesslich Stress redzuieren.» Auch Bewegung, vor allem in der Natur, hilft, sowie eine gesunde Ernährung.

Die Macht der eigenen Gedanken
Von grosser Bedeutung seien dabei aber auch die eigenen Gedanken. «Unsere Gedanken regulieren unsere Emotionen. Das Gehirn kann dabei nicht zwischen der realen Welt und unseren Gedanken unterscheiden», so die Psychotherapeutin. Daher sei es wichtig, sich der Macht seiner Gedanken bewusst zu sein und diese positiv zu formulieren. «Das verlangt einiges an Übung, doch es bringt enorm viel.»

All dies kann Kindern und Jugendlichen, aber auch Erwachsenen helfen, mit Stress umzugehen und entspannter durchs Leben zu gehen. «Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen», schloss Nuša Sager-Sokolic den Abend mit einem Zitat von Astrid Lindgren.

Was stresst Kinder und Jugendliche?

Das sogenannte Stressorenkonzept teilt Stressoren in drei Kategorien auf. Die kritischen Lebensereignisse sind solche, die nicht jeder erlebt. Das sind zum Beispiel die Scheidung der Eltern, die Geburt eines Geschwisters, ein Umzug oder Schulwechsel, der Tod nahestehender Personen oder Krieg. Diese führen in der der Regel bei guter Bewältigung zu einer positiven Entwicklung wie Anstieg des Selbstwerts und neue Problemlösestrategien.

Die normativen Aufgaben sind solche, die (theoretisch) alle haben, wie zum Beispiel den Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule, die Pubertät, Autonomieentwicklung oder den Aufbau einer Partnerschaft. Sie stellen Übergänge dar, die eine besondere Anpassungsleistung der ganzen Familie voraussetzen und Ressourcen benötigen. Diese Phasen sind besonders anfällig für die Entwicklung von Problemen, insbesondere wenn weitere Stressoren hinzukommen. Dafür sind sie in der Regel auch gut planbar.

Als Letztes kommen noch die Daily Hassles, also die täglichen Widrigkeiten, die immer wieder auftreten. Sie stellen den grössten Einflussfaktor dar und bestehen unter anderem aus Klassenarbeiten, Hausaufgaben am Nachmittag, Streitigkeiten unter Freunden und in der Familie sowie einer zu hohen Anzahl an Zusatzaktivitäten im Freizeitbereich, woraus sich ein Zeitmangel ergibt.

Vor allem die Daily Hassles sind für Kinder besonders schwierig, da Erwachsene eher akzeptieren können, dass diese einfach dazugehören, auch wenn man sie nicht möchte. Mit der Schule verbringen Jugendliche zudem bereits einen Grossteil ihrer Zeit mit etwas, das sie nicht mögen und bei dem sie keine Wahl haben. Dieses Gefühl kommt auch bei einigen täglichen Widrigkeiten auf. (jbe)

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