Weinland

Recherchen mit fast allen Sinnen

Der blinde Reisejournalist Christoph Ammann erhält als erster Schweizer den Ehrenpreis der Vereinigung Deutscher Reisejournalisten (VDRJ). Durch sein Handicap sei er hintergründiger und kritischer geworden, sagt er.

von Marina Noble
22. Dezember 2023

Die Vereinigung Deutscher Reise­journalisten (VDRJ) vergibt ihren Ehrenpreis 2024 für «hervorragende Leistungen im Tourismus» an Christoph Ammann. Der Marthaler zählt zu den erfahrensten Reisejournalisten und Reise-Ressortleitern im deutschsprachigen Raum. Seine besondere, anerkennungswerte Leistung: In den letzten Jahren hat er diese Aufgabe ohne sein Augenlicht gemeistert. Dass er daher seine Sinne anders einsetzt, hat ihm einen neuen Zugang zum Reisejournalismus eröffnet.

Wie hat sich der Reisejournalismus im Laufe Ihrer Karriere – immerhin 37 Jahre – verändert?
Christoph Ammann: Aktuelle Entwicklungen sind die abnehmende Zahl der Reiseteile in den Zeitungen und Magazinen, die zudem immer kleiner werden, der Transfer ins Digitale mit dem Zwang, geklickt zu werden, neuere Formate wie Podcasts und der Umgang mit künstlicher Intelligenz. Früher hatte jedes Käseblatt seinen eigenen Reiseredakteur. Heute wird alles hundertfach über die Kopfblätter kopiert. Enorm zugenommen hat der Einfluss der Agenturen. Anfänglich gab es in der Schweiz eine oder zwei PR-Agenturen im Tourismus. Die Anbieter machten ihre Öffentlichkeitsarbeit meist selbst. Heute übernehmen die Agenturen eine Vorselektion. Der Journalist hat viel weniger zu tun, da ihm alles auf dem Tablett serviert wird. Eine mitunter problematische Einladung zur Bequemlichkeit, aber auch eine gute Chance, an interessante Themen zu kommen. Es gibt immer noch qualitativ hochstehenden Reisejournalismus, aber auch viel Einheitsbrei.

Hat Reisejournalismus noch eine Zukunft?
Ja, er ist aber anders und in mehr Kanälen aufgestellt. Wenn ich früher zu einer Veranstaltung ging, wimmelte es von Reisejournalisten. Heute trifft man oft Marketing-Leute, Blogger und Influencerinnen. Freie Reisejournalisten sagen, sie würden mit PR oder Editorial Services Geld verdienen. Die Branche hat sich komplett gewandelt. Dem kritischen Reisejournalismus muss aber Sorge getragen werden. Und selber muss man schauen, dass man möglichst unabhängig berichtet und sich nicht von den Anbietern alles diktieren lässt. Der Konsument ist durch die Digitalisierung natürlich auch mündiger geworden und kann sich viel besser orientieren. Man muss im Reisejournalismus einen Schritt weiter gehen, Zusatzinformation oder einen Zusatzlesespass bieten.

Hat sich Ihre Arbeit verändert, als Sie Ihr Augenlicht verloren? Beim Durchsehen der Artikel habe ich viele Bahnreisen entdeckt.
Vor zwölf Jahren erblindete ich. Seither unternehme ich eher selten Fernreisen. Und die Bahn hat ihr Angebot ausgebaut. Ich schreibe jetzt viel über Hotels, wo ich mich in die Ambiance einfühle und mich mit Leuten unterhalte. Ich bin eher hintergründiger geworden, vielleicht auch kritischer, und hänge Texte mehr an Personen auf. Dabei muss man aber aufpassen, dass man nicht in die Falle tappt und sich mit der Marketingleiterin oder dem Kommunikationsverantwortlichen als Gesprächspartner zufriedengibt. Es wird erst interessant, wenn man jemanden findet, der etwas an der Basis macht, beispielsweise mit dem Gärtner oder dem Fischer spricht.

Mit welchen Hilfsmitteln arbeiten Sie?
Mit einem ganz normalen Computer. Nur anstatt dass ich meine Texte lese, höre ich sie. Ich mache praktisch alles über das Gehör. Ich habe ein Hilfssystem installiert, das mir alles vorliest. Alle Texte, die an eine Redaktion gehen, werden auch von einer externen Assistenz durchgelesen. Für die Recherche nutze ich oft das Telefon. Wenn ich unterwegs bin, habe ich jemanden dabei, der mir auch etwas beschreibt: Ist die Hotellobby in Grün oder Blau gehalten? Ist das Feuer, das im Kamin flackert, echt? In der Schweiz bin ich oft alleine unterwegs und mobil, sodass ich nicht total auf Hilfe angewiesen bin. Gespräche nehme ich auf Band auf.

Welche anderen Sinne sind für Sie besonders wichtig?
Wenn ich in einer Diskussion bin oder ein Referat halte, stellen die Leute immer die drei gleichen Fragen: «Sind denn Ihre anderen Sinne besser geworden?» Ich höre nicht besser als früher, das ist rein vom Alter her gar nicht möglich. Ich setze meine Sinne einfach anders ein und muss den Kopf unterwegs bei der Sache haben. Weil ich mich nicht auf meinen Sehsinn als Kontrollorgan verlassen kann, müssen die anderen Sinne herhalten. Ob das Matterhorn sich vor mir auftürmt, kann ich nur vermuten; es hilft natürlich, dass ich früher mal gesehen habe, logisch. Das Sehen ist aber nicht ersetzbar. Ich kann ja nicht riechen, ob jemand schwarze, braune oder blonde Haare hat. Was mir entgeht, muss ich mir beschreiben lassen. Dafür ist auch die Begleitperson an meiner Seite zuständig.

Und welche zwei anderen Fragen müssen Sie jeweils noch beantworten?
Weshalb ich eine Brille trage – bringt nichts mehr, aber ich fühle mich irgendwie sicherer damit. Und ich verzichte auf einen Blindenhund.

Sie sagten von sich selbst, Ihr Journalismus sei besser geworden. Und in einem anderen Interview, dass Sie ohne visuelle Wahrnehmung unvoreingenommener seien.
Ich kann mich nicht mehr auf das Sehvermögen verlassen, das einem in der Erinnerung auch mal einen Streich spielen kann – ergo gehe ich der Sache jetzt anders auf den Grund, checke noch sorgfältiger und bin bemüht, keine Fehler zu machen. Sonst heisst es ja: Klar, der hats nicht gesehen! Ich versuche auch nicht mehr, auf möglichst vielen Hochzeiten zu tanzen, sondern konzentriere mich auf meine Kernaufgaben. Mit jedem Tag gewinnt man, selbst in fortgeschrittenem Alter, an Know-how und Erfahrung. Das ist etwas, das mir niemand nehmen kann. Umso mehr, als ich mich für sehr viel interessiere – für Politik, Fussball, klassische Musik, Geschichte.

Wie nehmen Sie die Unterschiede wahr? Gibt es Regionen, Städte, die ganz besonders angenehm oder unangenehm sind?
Das ist eine schwierige Frage. Es gibt sehr sinnliche Städte, beispielsweise Amsterdam. Dort riechen Sie sehr viel – die fetten holländischen Waffeln, die vielen Menschen, überall wird gekifft. Wenn ich in Amerika durch Dallas oder Cincinnati laufe, merke ich wahrscheinlich keinen Unterschied. Sinnlich sind auch mediterrane Städte, die riechen gut – oder Dörfer in den Alpen, besonders im Sommer, wenn das frische Heu eingebracht ist. Ob ich in Zürich bin, in Winterthur oder in Schaffhausen, spüre ich natürlich, weil ich mich dort gut auskenne.

Sehen Sie Unterschiede auf der Welt, wie Destinationen den Nicht-Sehenden das Reisen erleichtern oder erschweren?
In den europäischen Städten gibt es für mich meistens keine Probleme. Aber ich möchte nicht als Blinder in Bangkok unterwegs sein, jeder Bürgersteig ist dort mit Strassenküchen oder Läden vollgestellt. Das ist eher schwierig, obwohl die Menschen gerade in Thailand sehr hilfsbereit sind. Das wiederum ist angenehm. Mit Begleitung kann ich eigentlich überall hin, ausser vielleicht auf eine schwierige Bergtour. Ich habe ja zwei gesunde Beine und bin fit. Ich steige jede Treppe hoch, das ist gar kein Problem. Vor einem Jahr sollte ich mit amerikanischen Hotelprofis im Berner Oberland einen Käse­keller in einem ehemaligen Bunker besichtigen. Die Amis wollten mir den Zutritt über eine steile Leiter ausreden, aber der Chef der Käserei lotste mich in 20 Sekunden ohne Probleme nach unten. Einschränkung ist nicht gleich Einschränkung. Für Rollstuhlfahrer ist es viel schwieriger, von A nach B zu kommen, als für Blinde.

Was bedeutet Ihnen der VDRJ-Ehrenpreis?
Das ist eine sehr schöne, unerwartete Anerkennung. Ich habe viele Beziehungen zu Deutschland, zu Anbietern, Agenturen, Kolleginnen und Kollegen. Zudem stammt meine Frau aus Schleswig-Holstein, ich bin mehrere Wochen pro Jahr dort. Ich bin sehr gerührt und erfreut über diese Anerkennung. Ich habe in meinem Leben noch nicht viele Preise gewonnen. Als Reisejournalist gewinnst du eher selten einen richtig hochkarätigen Journalistenpreis, da kommen mehr die Kolleginnen und Kollegen aus den Ressorts Politik oder Wirtschaft zum Zug. Damit konnte ich aber stets gut leben, und ich habe jeweils etwas geschmunzelt, wenn Edelfedern und Super-Rechercheurinnen aus anderen Ressorts nach Pressereisen fragten – vorzugsweise in Richtung Seychellen oder Karibik, am liebsten gleich Business Class und mit den Kindern …

Christoph Ammann verantwortete 26 Jahre lang als Ressortchef bei Tamedia den Reiseteil der «Sonntagszeitung», zuletzt auch die Reiseseite mehrerer Tageszeitungen. Seit seiner Pensionierung Ende 2022 betreut er für die «Sonntagszeitung» sechs Reisebeilagen pro Jahr, schreibt für eine Hotelfachzeitschrift und übernimmt Beratungsaufträge im PR-Bereich. Seine ersten journalistischen Sporen verdiente er sich ab 1977 bei der «Andelfinger Zeitung» ab, gefördert vom damaligen Verleger Karl Akeret.

Gespräche nimmt er auf: Christoph Ammann mit der St. Galler Stadtführerin Susan Widrig.
Gespräche nimmt er auf: Christoph Ammann mit der St. Galler Stadtführerin Susan Widrig. / Jacqueline Vinzelberg

Dem Reisejournalismus neue Prägung gegeben

Schon als Kind erhielt Christoph Ammann die Diagnose einer Erbkrankheit. Diese raubte ihm ab 2011 dann vollständig seine Sehkraft. Seine Karriere als Reisejournalist setzte der Absolvent der Ringier-Journalistenschule in Zürich dennoch erfolgreich fort. Weiterhin erfüllte er auch seine Aufgaben als Leiter des Reiseressorts der «Sonntagszeitung» und später auch des «Tages-Anzeigers». Seit seiner Pensionierung Ende 2022 übernimmt der 65-Jährige weiterhin reisejournalistische Projekte und schreibt für verschiedene Medien.

Mit dem Ehrenpreis würdigen die Mitglieder der VDRJ jährlich Persönlichkeiten, Organisationen oder Initiativen, die Ausserordentliches geleistet haben und nachhaltig erfolgreich waren. Die Entscheidung treffen sie in geheimer Wahl. «Wir ehren das Lebenswerk einer Persönlichkeit aus unseren Reihen, die wirklich Besonderes erbracht hat», sagt Marina Noble, die Christoph Ammann vorgeschlagen hatte und auch für die Organisation des Ehrenpreises verantwortlich ist. «Christoph Ammann hat nicht nur sein Schicksal auf bewundernswerte Weise gemeistert. Aus seinem Handicap hat er sogar Vorteile für seine journalistische Arbeit gezogen. Indem er seine Sinne anders einsetzt, hat er seinem Reisejournalismus eine neue Prägung gegeben.»

Martin Wein, Vorsitzender der VDRJ, ergänzt: «Unser geschätzter Schweizer Kollege Christoph Ammann ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Menschen mit Handicap selbstbestimmt leben, arbeiten und Barrieren überwinden. Er macht Mut, dass Inklusion gelingen kann.»

Die «sehr schöne, unerwartete Anerkennung» kommentiert Christoph Ammann: «Ich wusste gar nicht, dass mein Ruf mir auch in Deutschland vorauseilt. Ich bin sehr gerührt und erfreut.»

Der VDRJ-Ehrenpreis ist eine Bronze-Nachbildung des vermutlich ältesten Wagenrads der Geschichte. Er wird 2024 zum 49. Mal vergeben. Die Preisübergabe findet im Februar in Frankfurt statt. (Marina Noble)

Die Vereinigung Deutscher Reisejournalisten (VDRJ) ist die Berufsvereinigung der deutschsprachigen Reisejournalisten und -journalistinnen sowie der Medienfachleute im Tourismus. Zu den aktiven rund 230 Mitgliedern zählen Journalistinnen und Journalisten aus den Bereichen Print, Online, Radio, TV, Bücher, journalistische Blogs, Regie, Produktion, Kamera und Foto sowie Expertinnen und Experten der Medienarbeit und PR im Fachgebiet Reise/Tourismus aus Agenturen und Pressestellen. Seit 1957 setzt sich die VDRJ für die Förderung der beruflichen Interessen der Mitglieder, die Wahrung des Berufsansehens und die Erleichterung der praktischen Arbeit der Mitglieder ein.

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